Witten. . In einer neuen Serie beleuchten wir Wittener Wohnviertel. Den Anfang macht die Kerschensteinerstraße in Annen – einst ein problematisches Quartier.

„Es ist ein buntes Miteinander – und es funktioniert gut!“ Lässt man den Blick über das Gelände an der Kerschensteinerstraße in Annen schweifen, glaubt man Nicole Milz, Mitarbeiterin der Siedlungsgesellschaft Witten, aufs Wort: Zahlreiche Erwachsene und Kinder feiern hier das alljährliche Nachbarschaftsfest, das bereits Tradition geworden ist.

Flohmarktstände, ein Feuerwehrwagen, ein Sport- und Spielparcours, ein Schminkstand bieten Groß und Klein an diesem Nachmittag bunte Unterhaltung. Ein freundlicher älterer Herr fesselt seine Zuschauer durch kleine Zaubertricks: Große Sensationen braucht es hier nicht – die eigentliche Attraktion ist das freundschaftliche Miteinander der Bewohner des Quartiers.

Wie ist es um Ihre Nachbarschaft bestellt?

In unserer neuen Serie „Hallo Nachbar!“ möchten wir über Menschen in den Wittener Wohnvierteln berichten. Verstehen Sie sich gut mit den Menschen von nebenan oder gegenüber? Gibt es Nachbarschaftshilfe? Oder ist es eher anonym?

Wenn Sie mögen, rufen Sie an (910 30 30) oder schreiben Sie: redaktion.witten@waz.de. Wir kommen gern vorbei!

Das war nicht immer so. Noch vor einigen Jahren galt das Gebiet Kerschensteinerstraße, Am Anger, Marktweg und Fröbelstraße als sozialer Brennpunkt. „Die Ecke war in erster Linie für den florierenden Drogenhandel bekannt“, erinnert sich Bernd Brakemeier, der seit einiger Zeit der offizielle Quartierbetreuer ist. Das Projekt „Soziale Stadt Annen“ unterstützte das Engagement von Siedlungsgesellschaft und Jugendamt mit Städtebaufördermitteln und krempelte das vermeintliche Problemviertel um. Ein Jugend- und ein Nachbarschaftstreff, Bastel- und Kochkurse, Mieterfrühstück und bauliche Maßnahmen, insbesondere die Außenflächen betreffend, schufen ein neues Wohngefühl.

Familien aus vielen unterschiedlichen Ländern kommen hier zusammen. Anna, Anja und Agnes wohnen schon viele Jahre in der Siedlung und fühlen sich wohl hier. „Wir haben eine enge Freundschaft geschlossen und machen vieles gemeinsam“, so das Dreiergespann aus Polen. Nehmen sie an den Gemeinschaftsaktivitäten teil? Einhelliges Nicken. Quartiersbetreuer Bernd Brakemeier lobt das bescheidene Trio: „Sie sind unser Superteam für alle Feste! Karneval, Halloween – zu jedem Anlass lassen sie ihre Fantasie spielen. Die Feiern sind beliebt, ohne Voranmeldung geht nichts!“

Am 27.8.2016 fand an der Kerschensteinerstraße in Witten wieder das von der Siedlungsgesellschaft Witten mbH ausgerichtete Mieter-Sommerfest statt. Diverse Attraktionen wie z. B. ein Kinderflohmarkt, eine Hüpfburg, ein Einsatzfahrzeug der freiwilligen Feuerwehr, ein Kindertheater und ein Zauberer sorgten bei Grillwurst und Kuchen wieder für ein fröhliches Miteinander der multikulturellen Mieterschaft. Foto Manfred Sander
Am 27.8.2016 fand an der Kerschensteinerstraße in Witten wieder das von der Siedlungsgesellschaft Witten mbH ausgerichtete Mieter-Sommerfest statt. Diverse Attraktionen wie z. B. ein Kinderflohmarkt, eine Hüpfburg, ein Einsatzfahrzeug der freiwilligen Feuerwehr, ein Kindertheater und ein Zauberer sorgten bei Grillwurst und Kuchen wieder für ein fröhliches Miteinander der multikulturellen Mieterschaft. Foto Manfred Sander © FUNKE Foto Services

Auch am Nachbartisch hat sich ein eingeschworenes Team zusammengefunden. Melahat, Nihal, Özgül und Arife treffen sich regelmäßig jeden Freitag, um zu plaudern, zu spielen, gemeinsam zu kochen. Die Frauen aus der Türkei leben schon lange hier – Özgül und Arife kommen auf über 40 Jahre im Quartier. Nihal ist hier aufgewachsen, ebenso wie Melahat, die nach einigen Jahren mit ihrer Familie in die Siedlung zurückgekehrt ist: „Ich fühle mich wohl hier!“

Einst sozialer Brennpunkt, nun Wohlfühl-Multikulti-Vorzeigeprojekt? Ganz so bilderbuchmäßig ist es dann doch nicht. „Es ist ein gutes Miteinander, aber die einzelnen Communities aus den unterschiedlichen Ländern bleiben doch unter sich“, weiß Viertelkenner Brakemeier. „Tagsüber ist es schön hier, aber nachts nicht“, sagt auch Elisabeth Jurk. „Da sitzen die Männer oft bis in die frühen Morgenstunden draußen und sind so laut, dass man nicht schlafen kann.“

Es gibt auch bauliche Probleme. Der 18-jährige Sohn von Elisabeth Jurk ist auf einen Rollstuhl angewiesen – Barrierefreiheit Fehlanzeige: „Bis zum Aufzug sind es sieben Stufen. Gut, dass die Nachbarn immer helfen.“ Amara (9) aus dem Irak erzählt, dass ihre Familie bald fortzieht: „Die Nachbarn sagen immer schlimme Sachen zu meiner Mutter.“

Ein Fußgängerüberweg fehlt

Quartiersbetreuer Bernd Brakemeier wünscht sich für die zahlreichen Kinder der Annener Siedlung mehr Sicherheit: „Sie wechseln oft zwischen den beiden Spielplätzen hin und her, quer über die Straße. Da fehlt ein Fußgängerüberweg.“ Seine Hilferufe bei der Stadt, bis hin zur Bürgermeisterin, blieben bisher erfolglos.

Kinder gibt es in der Siedlung Kerschensteinerstraße viele – und im Gegensatz zu den Eltern ist ihnen die Herkunft ihrer Freunde herzlich egal. Das beginnt bereits in der nahe gelegenen Kita.

„Wir bekommen alle unter einen Hut“, erzählt Mitarbeiterin Martina Wonsowitz, die heute am Schminkstand kreativ ist. „Manchmal brauchen wir Dolmetscher, aber es funktioniert gut und macht Spaß.“ Das bestätigt der achtjährige Lorenz, dessen Familie aus dem Irak kommt: „Klar habe ich hier jede Menge Freunde!“ Auch Schwester Levian (6) ist nicht einsam: „Das ist meine Freundin Celina“, erklärt sie und zeigt auf ein kleines blondes Mädchen. Der Anfang ist gemacht – und die nächste Generation wird den Weg weitergehen.