Witten. . Der unterer Bereich der City ist schon lange ein Sorgenkind. Doch jetzt werfen immer mehr Ladeninhaber auch an der oberen Bahnhofstraße das Handtuch.
60, 54, 45, 43, 41 – das ist nicht etwa der ungewöhnliche Countdown zu einer neuen, spektakulären Weltraummission. Nein, viel ernüchternder: Das sind die Hausnummern von leeren Ladenlokalen in der Bahnhofstraße.
Nicht nur der schon so oft besungene Niedergang des unteren Abschnitts von Wittens zentralster Einkaufsstraße ist zu beklagen. Inzwischen fressen sich die Leerstände auch in die obere Bahnhofstraße.
Ein Ende ist nicht abzusehen: So ist zum Beispiel auch der Fußball-Fanshop in Hausnummer 26 dicht. Und das seit 80 Jahren in Witten ansässige Schuhfachgeschäft Klauser schließt zum Jahresende zwei seiner drei Innenstadtfilialen: den Sportschuhladen am Berliner Platz und den Schuhmarkt an der Bahnhofstraße 21.
Übrig bleibt das Klauser-Fachgeschäft in Hausnummer 23. „Wir feiern gerade 80-jähriges Jubiläum. Und wir werden hier nochmal 80 Jahre bleiben“, versichert Filialleiterin Katrin Schulzke (45). Die anderen beiden Filialen seien Opfer der Umstrukturierung, nachdem Klauser Anfang des Jahres vom Ara-Schuhkonzern übernommen worden sei. Einziger Trost: Keine der Wittener Mitarbeiterinnen wird entlassen, sondern sie werden auf Filialen im Umkreis verteilt.
„Die Online-Geschäfte quälen den Einzelhandel. Immer mehr junge Kunden kaufen überwiegend im Internet“, meint Schulzke. Ihre Kollegin Heike Hartung (55) vom Berliner Platz hat außerdem festgestellt: „Die eine Schließung in der City zieht eine andere nach sich. Früher haben die Herren ihre Anzüge bei Boecker gekauft und dann ihre Schuhe bei uns.“
Das alteingesessene Bekleidungsgeschäft Boecker an der Bahnhofstraße 17-19 gibt es bekanntlich seit Anfang 2014 nicht mehr. Wie überhaupt die Luft für solide, inhabergeführte Läden in der Innenstadt immer dünner zu werden scheint, sich Ketten und Billigshops mehr und mehr breitmachen. Was waren das noch für Zeiten, als der große Spielzeugladen Langelittig vor Jahrzehnten Kunden auf die Bahnhofstraße zog und Inhaber Otto Ritter Tag und Nacht wachenden Auges durch die Räume schritt? Auch Kunden von außerhalb kamen damals extra nach Witten, um bei Langelittig Spielzeug oder Bastelbedarf von Markenqualität zu kaufen. Um anschließend im gediegenen Café Leye schräg gegenüber in Ruhe Kaffee und Kuchen zu genießen.
„Es ist ja nicht nur so, dass einige Traditionsgeschäfte keine Nachfolger gefunden haben. Auch die Filialisten haben die ganze Einkaufsstruktur kaputtgemacht“, meinen Ruth (85) und Rudi (88) Müller, die schon seit 78 Jahren im gleichen Haus in der City leben. „Früher gab es hier in der Innenstadt viel mehr kleine Geschäfte, auch Traditionsbäcker oder alteingesessene Metzger“, erinnern sich die beiden. Selbst die untere Innenstadt sei viel belebter gewesen. Rudi Müller sagt kopfschüttelnd: „Als das Novum-Gebäude fast komplett leergezogen wurde, fing das Elend der unteren Bahnhofstraße so richtig an.“
Vielleicht erlebt es bald wieder bessere Zeiten. Denn eine Immobilienfirma aus Bochum, spezialisiert auf Gebäude in schwierigen Lagen, hat den Novum-Komplex Ecke Bahnhof-/Bergerstraße gerade von der Zurich-Gruppe gekauft und will ihn wieder mit Leben füllen.
Früher waren Läden auf der Bahnhof- oder Ruhrstraße für ihre Besitzer Top-Adressen, mit denen sich gut Geld verdienen ließ. Doch Leerstände breiten sich in der City weiter aus. Auch das Ladenkarussell mit wechselnden Inhabern oder Mietern dreht sich immer schneller.
So ersetzt der Stoffmarkt Hirschfeld, der über viele Jahre eine Filiale am Berliner Platz betreibt und erst vor einiger Zeit eine weitere an der Ruhrstraße 31 eröffnete, beide durch den neuen, großen Laden an der Ruhrstraße 28, der Mitte Juni dort startete. Schmucke Blumenkübel stehen am Eingang. Über Jahre waren die Räume leer, nachdem die alteingesessene Germania-Apotheke für immer geschlossen hatte.
„Räumungsverkauf“ und „Wir schließen unser Geschäft im August. Alles muss raus!!!“ steht auf Schildern von „A. u. H. Moden“ an der Bahnhofstraße 51. „Hier runter verirren sich kaum Kunden“, meint eine Verkäuferin achselzuckend. Seit sechs Jahren besteht der Laden. Ein Nachfolger für die Räume ist nicht in Sicht. Diese traurige Feststellung lässt sich u. a. auch beim ehemaligen Bekleidungsladen Witt Weiden (Bahnhofstraße 41), Geschenkartikel Donare (Bahnhofstraße/Ecke Breddestraße) oder dem großen Modellbau- und Bastelshop Moba an der Oberstraße machen. Eine gute Nachricht gibt es jedoch direkt um die Ecke: Dort, wo zuvor die „Suppenfabrik“ und anschließend Leerstand war, versprechen Schilder in den abgeklebten Schaufenstern: „Burger Brothers – Coming soon“. Es zieht also bald eine Schnellrestaurant-Kette an der Ruhrstraße 3 ein – nur wenige Meter entfernt vom bereits existierenden Fastfood-Filialisten McDonald’s an der Ruhrstraße 1.
Im Laden zwischen den beiden Burger-Brätern dröhnen Bohrhämmer: Droht Abriss, nachdem die Räume der Bekleidungskette Ernsting’s Family so plötzlich leer stehen? „Nein, keine Sorge. Wir renovieren nur. Alle Ernsting’s-Filialen im Umkreis, wie in Lünen oder Olpe, werden derzeit runderneuert“, sagt André Szabo vom Abbruchunternehmen TC Garant, nachdem er den Bohrhammer abgeschaltet hat. Sieben Mitarbeiter, darunter drei Elektriker, bringen die Filiale an der Ruhrstraße 3 auf Vordermann. Szabo meint: „In vier Wochen sind wir fertig.“
Vielleicht würde so eine Rosskur ja auch bei anderen Innenstadtläden helfen, um sie für Mieter oder Käufer attraktiv zu machen. Der Novum-Komplex an der unteren Bahnhof-/Breitestraße soll nach Auskunft seines neuen Besitzers, der Bochumer Investorengruppe „Immobilien Gallery“, genau das erleben: „In Kürze erfolgt die Modernisierung und Neugestaltung der kompletten Anlage“, heißt es aus der Nachbarstadt.
Das Konzerngeflecht um die Brüder Ergün und Ertan Ilce ist auch in Witten kein Neuling. Dem Immobilienunternehmen gehören beispielsweise das Haus Ruhrstraße 22, wo sich früher Gardinen Arldt und heute die Gründerwerkstatt Aschke befindet, ein Mehrfamilienhaus an der Ardeystraße 93, oder das Haus mit dem Asia-Laden am Kornmarkt. Nach dem Kauf erhielten sie alle den markanten roten Fassadenanstrich, der den Gebäuden dieser Immobilienfirma auch in anderen Ruhrgebietsstädten hohen Wiedererkennenswert verleiht.
Zum Novum-Center heißt es aus Bochum: „Verhandlungen mit mehreren Ankermietern laufen derzeit. Auch positive Gespräche mit der Stadt Witten wurden bereits geführt und eine kooperative Zusammenarbeit zugesichert.“