Witten.. Nur noch wenige Menschen sprechen den fast ausgestorbenen ostpreußischen Dialekt. In Witten aber wird die Mundart regelmäßig gepflegt.
„Jemietlich“ klingt der ostpreußische Dialekt. Viele Jahre hörte man diese Mundart der Vertriebenen häufig im Ruhrgebiet. Heute spricht sie kaum noch jemand. Dieser Dialekt stirbt aus – denn zwischen Memel und Allenstein wird längst Polnisch oder Russisch gesprochen. In Witten aber pflegen die Mitglieder der Landsmannschaft Ost- und Westpreußen sie bis heute – und zwar mit viel „Jefiel“.
Einmal im Monat treffen sich etwa 30 meist ältere Herrschaften in der Ev.-Luth. Kreuzgemeinde an der Lutherstraße. Kaffee gibt es da, Kuchen, eine Runde Schnaps für alle. An diesem Tag wird ein Film über die alte Heimat gezeigt. Dass regelmäßig jemand einige Verse in der ostpreußischen Mundart vorliest, gehört dazu.
Kulturwart zitiert Verse
Ulrich Ruhnke, pensionierte Studiendirektor, und nun Kulturwart der Gruppe, steht auf, schüttelt eine Glocke, damit Ruhe im Saal einkehrt. Er trägt „Das Flohche“ vor, ein launiges Gedicht von Dr. Alfred Lau, das wohl jeder gebürtige Ostpreuße kennt. „Se huckden friedlich aufe Bank, der Mond kickd durche Wolken, er hädd dem Schweinstall ausgemist, und sie de Kuh gemolken. Nu hädd er beide Arme fest um ihrem Hals geringelt,daß se man knapp noch pusten konnd, so hield er ihr umzingelt.“ Mit viel Gestik und Mimik erzählt Ruhnke, wie jener Herr im üppigen Dekolleté der Dame einen Floh sucht. Im Saale wird gekichert und nach dem Schnaps geschaut.
Dialekt im Pferdestall gelernt
Warum spricht der 79-Jährige Ostpreußisch? „Weil ich dort geboren wurde. Mit sieben Jahren sind wir geflüchtet.“ Den Dialekt habe er im Pferdestall und auf dem Gutshof gehört. Erst nach dem Krieg aber habe er sich für das Ostpreußische interessiert und kleine Vorträge gehalten. „Vor allem, weil die Texte Humor haben. Und weil es mir am Herzen liegt.“ Ruhnke versteht das als „Kulturarbeit.“ Er hat kleine, fast historische Bücher mitgebracht, etwa Alfred Laus „Kriemelchens“ oder „Plidder Pladder“.
Wie klingt denn nun das Ostpreußische? Die Silbe „ei“ wird „breeeeeit“ gesprochen, sagen da alle. Typisch seien auch Verkleinerungsformen. Ein „chen“ kann man doch an jedes Wörtchen hängen, an „Marjellche“ für ein Mädchen oder „Madamche“ für eine Frau. „Die Texte sind sehr freundlich und humorvoll“, sagt Ruhnke und allein ein rollendes „R“ mogelt sich dabei in sein astreines Hochdeutsch. Viele Worte sind längst in das Ruhrgebiets-Deutsch übergegangen (siehe Infokasten).
„Schabbern“ nennt die Gruppe dieses Geschwätz – und wovon handelt es? Vor allem vom Leben der einfachen Bauern. In der Kirchengemeinde herrscht Stimmung. Und das, obwohl die Landsmannschaften doch allgemein unter dem Älterwerden ihrer Mitglieder leiden.
Nur noch drei Landsmannschaften
Aloys Mathey, aktiv in der Landsmannschaft der Pommern und im Bund der Vertriebenen, befasst sich mit diesem Thema seit 35 Jahren. Zwanzig Prozent der Wittener Bevölkerung waren nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebene. Sie organisierten sich – je nach Herkunft – in Witten in sieben Landsmannschaften. „Überlebt“ haben drei – nämlich die Pommern, die Ostpreußen – denn aus diesen Gebieten kamen die meisten „Neu-Wittener“ – und die Deutsch-Balten. Aufgegeben haben die Schlesier, Sudetendeutschen, jene von der Weichsel-Warthe und die Russlanddeutschen. „Obwohl es sehr viele Russlanddeutsche in Witten gibt, aber sie sind nicht organisiert“, sagt Manthey. Alle vier Gruppen fanden zuletzt keine Vorsitzenden mehr. „Es kommt auch darauf an, was für ein Programm man auf die Beine stellt“, sagt Elisabeth Rohlf ein wenig stolz. Sie hat den Vorsitz der Wittener Ost- und Westpreußen inne, mit 84 Jahren.