Witten. . Immer öfter muss die Stadt Wittener Familien und ihren Kindern helfen – auch, weil immer mehr Eltern psychisch krank sind.

Sozialarbeit, Familienpatenschaften, Hilfe beim Aufbau einer Tagesstruktur: Erzieherische Hilfen für Familien stellen das Wittener Jugendamt immer öfter vor große Herausforderungen. Auch, weil immer mehr Eltern psychisch erkranken. Teilweise ist die Situation der Kinder so dramatisch, dass es nur noch einen Ausweg gibt: Im vergangenen Jahr musste die Stadt 23 Anträge auf (Teil-)Entzug des Sorgerechts wegen des Verdachts der Kindeswohlgefährdung stellen.

Zwei aktuelle Fälle aus Witten haben zuletzt unrühmliche Prominenz erlangt: Seit Anfang des Jahres beschäftigt sich das Bochumer Landgericht mit einer Mutter aus Witten, die ihre Zwillingsmädchen böswillig vernachlässigt und misshandelt haben soll. Wie in ähnlichen Fällen spielte auch hier das Jugendamt eine wichtige Rolle: Erst unterstützte die Stadt die Mutter bei der Erziehungsarbeit, letztlich sah man sich gezwungen, die Kinder der mütterlichen Obhut zu entziehen – sie waren laut Anklage lebensbedrohlich unterernährt. In einem zweiten Fall stand ein Busrandalierer (18) vor Gericht – ein Pflegekind, dessen Pflegemutter an einer Psychose leidet und dem ein Betreuer vom Jugendamt hilft.

Kein Blickkontakt zum Kind

Kosten sind um zwei Millionen Euro gestiegen

Meist beantragen Mütter oder Väter Erziehungshilfen, sie werden nicht „verordnet“. Die Stadt betont, dass es für jede Situation – egal ob für Mütter, Väter, Kinder oder Jugendliche – eine individuelle Beratung gebe. Mehr Infos: www.witten.de unter „Bildung & Soziales“, Unterpunkte „Familie“ und „Jugend“.

Die Kosten für Hilfen sind gestiegen: von 11 Mio. € (2010) auf 13,3 Mio. (2014). Am teuersten sind stationäre Hilfen. Ein Heimplatz kostet bis zu 250 €/Tag, eine Pflegefamilie 1000 €/Monat. Es gibt auch Kinderschutzhäuser (ab 6), Jugendschutzstellen (ab 12) und betreutes Wohnen für junge Erwachsene.

Die Zahl der Fälle, in denen das Jugendamt ambulante und stationäre „erzieherische Hilfen“ eingeleitet hat, ist in den letzten Jahren deutlich angewachsen: von monatlich 583 (im Jahr 2010) auf 725 (im Jahr 2014) – Aufgaben, die von 58 Mitarbeitern in der Erziehungshilfe gestemmt werden müssen. „Wir erleben viele junge Frauen, die die einfachsten Erziehungsaufgaben nicht erfüllen können. Sie schauen ihrem Kind zum Beispiel nicht in die Augen“, beobachtet Andrea Albertz-Stobbe, Abteilungsleiterin der städtischen Erziehungshilfe. Überforderung von Vätern und Müttern und psychische Erkrankungen als Ursachen hätten deutlich zugenommen, weiß die Expertin. Gründe dafür seien etwa: Trennungen, Scheidungen, Arbeitslosigkeit oder dass Eltern ihre Erwerbsarbeit mit der Erziehung nicht unter einen Hut bekommen.

Besonders belastete Familien – ob durch Schicksalsschläge, ihre Familiensituation oder die finanzielle Lage – hätten es schwer, ihren Verpflichtungen nachzukommen, weiß Jugendamtschefin Jutta Schmidt. Der Großteil der Familien, die vom Jugendamt unterstützt werden, bekommt laut städtischen Zahlen Sozialleistungen. Ein Fünftel der Empfänger von Jugendamtsleistungen hat den Zahlen zufolge ausländische Wurzeln.

Der Antrag auf Entzug des Sorgerechts ist das äußerste Mittel der Stadt. Es kommt nur zum Einsatz, wenn „Gefahr in Verzug“ sei, sagt Andrea Albertz-Stobbe. Also zum Beispiel, wenn Kinder geschlagen werden. Oder (scheinbar) nichts zu essen bekommen wie im Fall der Zwillingsmutter aus Witten. 23-mal wurde vergangenes Jahr so ein Antrag gestellt, in dessen Folge Kinder etwa in Pflegefamilien oder Heimen unterkommen, wenn dies ein Gericht bestätigt. Derzeit leben 176 Kinder in Witten in Pflegefamilien. „Bevor ein Kind in seine Familie zurück kann, machen wir uns ein Bild von der Situation im Elternhaus“, sagt Jutta Schmidt. Die Rückführung fange schrittweise mit ein paar Besuchen an und werde „engmaschig kontrolliert“. Schmidt: „Wichtig ist, dass die Eltern einsehen: Wir müssen etwas an unserem Verhalten ändern.“