Witten. . Neue Aufgabe für die Abteilung Erziehungshilfe: Sie kümmert sich um das Schicksal unbegleiteter Minderjähriger. 78 leben derzeit in der Stadt .
Sie haben einen langen Weg hinter sich und kommen ohne ihre Eltern, die vielleicht tot sind, in der Fremde an: Als „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ werden diese Kinder offiziell bezeichnet. Um sie kümmert sich das Jugendamt. „Diese neue Aufgabe ist eine echte Herausforderung für uns“, sagt Andrea Albertz-Stobbe, als Leiterin der Abteilung Erziehungshilfe für die jungen Menschen zuständig. 78 sind Witten derzeit zugewiesen. „Alle haben sich über die Balkanroute durchgeschlagen.“ Damit sie sich in der Stadt schnell heimisch fühlen, musste das Amt sich neu organisieren.
„Das ist eine Sache, die viel Geld und Personal kostet“, sagt die 49-jährige Diplom-Sozialpädagogin. Jedes Kind bekomme einen Vormund, deshalb gibt es dafür inzwischen zwei zusätzliche Stellen bei der Stadt, die das Land finanziert. „Wir verantworten jedes einzelne Schicksal von jedem Kind in Witten, nicht nur das der Flüchtlinge“, betont sie aber. „Damit kein Kind zu kurz kommt, wurde aufgestockt, sonst wäre die neue Aufgabe nicht zu bewältigen gewesen.“
Lange Wartezeit auf Schulplatz
Ein Vormund und ein Vertreter der Clearing-Stelle, die Hintergründe und Umstände der Flucht klärt und Kontakte zu ebenfalls hier oder in der Region lebenden Eltern oder Verwandten herstellt, kümmern sich um jedes einzelne Flüchtlingskind – von der Basisversorgung über den Schulbesuch bis zur Therapie. „Das A und O ist, dass sie schnell einen Platz in der Schule bekommen, um auf diese Weise viel von der Sprache und Kultur ihrer neuen Heimat mitzubekommen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu erhalten“, so Albertz-Stobbe. Das Kommunale Integrationszentrum des Kreises übernimmt die Verteilung. Das Problem: Die vier bis fünf internationalen Förderklassen des Berufskollegs in Witten seien total überbelegt. „Einige Jugendliche warten schon seit November auf einen Platz.“
Die meisten kommen aus Afghanistan
78 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, darunter nur ein Mädchen, leben derzeit in Witten. 36 kommen aus Afghanistan, 28 aus Syrien, fünf aus dem Irak, vier aus Algerien und drei aus Marokko. Bei einigen ist die Nationalität nicht feststellbar.
Seit dem 1. November 2015 regelt ein neues Gesetz im Bereich der Jugendhilfe, dass die Stadt diese jungen Menschen in Obhut nehmen muss.
Untergebracht sind die minderjährigen Flüchtlinge, wenn nicht im eigenen Familienverband, in verschiedenen Heimeinrichtungen der Jugendhilfe. Dort leben derzeit 30 von ihnen – zusammen mit den deutschen Jugendlichen, die oftmals schwer beeindruckt seien vom Schicksal der Geflüchteten.
Natürlich, sagt Andrea Albertz-Stobbe, habe es auch Fälle gegeben, in denen die Minderjährigen einfach abgehauen sind und ihr Verbleib ungeklärt blieb. „Einige waren auch nur auf der Durchreise, die wollten unbedingt nach Schweden.“ Im Jugendamt, sagt sie, sei man ja so einiges gewöhnt. Doch die Geschichten der jungen Flüchtlinge relativierten vieles.
„Alle haben schlimmmes Heimweh“
Warum machen sich Jugendliche allein auf einen tausende Kilometer langen Weg, der sie von der Heimat in ein völlig fremdes Land führt? Was uns unfassbar erscheint, ist für diese jungen Menschen die letzte Chance. „Ihre Eltern wurden erschossen oder durch eine Bombe getötet“, weiß Andrea Albertz-Stobbe.
Ganz klar wolle sie sich dagegen verwehren, dass Eltern ihre Kinder einfach so „losschickten“. „Wenn etwa der Vater tot ist, dann fällt die Mutter diese schwere Entscheidung, um ihr Kind in Sicherheit zu bringen. Allein deshalb nimmt sie die Trennung von Sohn oder Tochter in Kauf.“ Meist bilden sich unterwegs Fluchtgemeinschaften. „Viele sind fast ein Jahr auf Tour. Zum Teil haben sie zwischendurch mehrere Monate in der Türkei gearbeitet“, weiß die Sozialpädagogin. Und dann stehen sie plötzlich hier vor der Tür – mit Schusswunden oder einem Knalltrauma, wenn die Bomben direkt neben ihnen explodiert sind. „Ein Junge hielt seinen Vater an der Hand, als dieser erschossen wurde.“ Viele weinen, alle haben schlimmes Heimweh. Dass sie ein Handy haben, das hätte nichts mit Besitzen wollen zu tun: „Es ist ihre einzige Verbindung zur Heimat.“
„Sie sind Überlebenskünstler“
Vor diesem Hintergrund sei es oft schwierig, für jeden die passende individuelle Betreuung zu finden. Sprachprobleme und kulturelle Unterschiede machten die Situation nicht gerade leichter. „Diese Jugendlichen haben viel mehr Lebenserfahrung als gleichaltrige Deutsche, sie sind Überlebenskünstler“, so Albertz-Stobbe. Da sei es für manchen schwer zu verstehen, dass er plötzlich um 21 Uhr ins Bett müsse oder eine bestimmte Summe an Taschengeld zugewiesen bekomme.
In die Schule zu gehen, sich an Regeln zu halten, andere Religionen zu tolerieren – darauf hätte nicht jeder Lust. „Aber die meisten sind hochmotiviert und geben Vollgas“, sagt sie und erzählt von einem Vormund, der berichtete, sein Mündel noch nie frech oder respektlos erlebt zu haben. „Es gibt unter unseren minderjährigen Flüchtlingen kein großes Potenzial an Aggression oder Kriminalität.“
Ernst genommen zu werden, frei die Meinung äußern zu können und vor allem: in Frieden leben zu können – „das wissen sie zu schätzen“. Die Sicherheit sei es, die sie hier ausharren lässt. „Die meisten würden wieder nach Hause wollen, wenn dort Frieden herrschen würde.“