Witten. . Die Martin-Luther-Gemeinde ist ein bisschen anders als andere Gemeinden. Nicht aus Protest, sondern weil es gut zu ihr und den Menschen passt.
Kanzel, Taufstein, Orgel: Ohne das geht Kirche nicht? Was in anderen Gotteshäusern in der Tat undenkbar scheint, ist in der Martin-Luther-Kirchengemeinde längst Alltag. Kanzel und Taufstein ließ Pfarrer Jürgen Kroll schon vor zehn Jahren entfernen. Vor zwei Jahren dann verkaufte die Gemeinde auch noch die Orgel.
Ja, dort oben an der Ardeystraße ticken die Uhren etwas anders. „Wir arbeiten flexibel und gemeindenah“, formuliert es Pastor Dirk Schuklat (52), der im Gottesdienst natürlich keinen Talar, dieses „mittelalterliche Gelehrtengewand“ trägt. Und man denkt praktisch: So wurde das kostbare Abendmahlgeschirr zurückgegeben, „weil die Reinigung zu teuer war“. Am liebsten wär’s dem Pastor, der Altar – „als Opfertisch eine theologische Katastrophe“ – würde ebenfalls aus der Kirche verschwinden oder zumindest flexibel verschiebbar sein. Da wundert sich die Besucherin aber dann doch über die schweren Holzbänke. „Und Sie haben ja recht“, entgegnet Schuklat. In diesem Jahr sollen tatsächlich Stühle Einzug halten.
„Wieder mehr Stadtteilkirche werden“
Die Ev.-luth. Martin-Luther-Kirchengemeinde reicht in den Innenstadtbereich Wittens und den Stadtteil Annen hinein. Und im Moment, sagt Pastor Dirk Schuklat, besinne man sich darauf, wieder mehr Stadtteilkirche zu werden. 1978 wurde die Kirche gebaut.
Die Martin-Luther-Gemeinde gehörte zu den Pilotgemeinden, die auf die ökologische Schiene aufsprangen, Photovoltaik installierten und dafür den „Grünen Hahn“ erhielten.
Von den rund 3000 Gemeindemitgliedern engagieren sich etwa 230 ehrenamtlich, 150 von ihnen regelmäßig. Die Gemeinde unterstützt Projekte in Ghana und Ungarn. „Etwas schräg – aber auf jeden Fall liebenswert“, so stellt sie sich selbst auf ihrer Homepage dar. Wer mal gucken möchte: www.mlkg.de
Die Martin-Luther-Gemeinde sei dafür bekannt, „immer alles anders zu machen“, bestätigt auch Diakon Peter Unger (52), der sich lieber Gemeindepädagoge nennt. „Aber wir tun das nicht aus Protest. Wir möchten nur, dass bei uns jeder ehrlich sein kann.“ Und so werfen sie über Bord, was gerade keiner braucht – oder was schon woanders in Witten existiert. Zum Beispiel gibt es keine Frauenhilfe und auch keinen hauptamtlichen Kirchenmusiker, aber viele Ehrenamtliche, die Schlagzeug spielen oder Gospel singen.
Projekte, sagt Unger, „laufen besser als dauerhafte Angebote.“ Da orientiere sich die Martin-Luther-Gemeinde an englischen Vorbildern. „Fresh Expressions of Church“ heißt das dort und meint: einfach mal alles ausprobieren. „Und dann gucken wir, was von Gott gesegnet bleibt und was wieder geht“. Eine Gruppe habe etwa mal das Thema Ernährung im christlichen Kontext behandelt und „die treffen sich immer noch zum gemeinsamen Walken“.
Oder warum, fragt Dirk Schuklat, würden woanders immer nur ältere Jahrgänge zum Konfirmationsjubiläum eingeladen? Warum darf nur ein ordinierter Pfarrer taufen? In der Martin-Luther-Gemeinde seien Gottesdienste komplett ohne Pfarrer möglich.
Keine Beteiligung am Offenen Ganztag
Gemeinsam habe die Gemeinde auch entschieden, keine Betreuung im Offenen Ganztag zu übernehmen: „Die vielen Zwänge, die man sich dadurch auferlegt, das passt nicht zu uns“, sagt Peter Unger. Dafür sei eine hauptamtliche Kraft im Kindergarten katholisch, denn Qualifikation habe ja nichts mit Gott zu tun. Was nicht heißt, dass die Einrichtung kein evangelisches Profil vermittle.
Den Komplex an der Ardeystraße verkaufen, sich irgendwo einmieten: Auch das sei vorstellbar. „Aber“, sagt Unger, „es ist schon schön, ein eigenes Büro zu haben“. Und eine Kirche, in der die Menschen bald auf Stühlen sitzen.