Witten. . Er ist ein stadtbekanntes Gesicht und ein kirchlicher Querdenker: Jürgen Kroll. Wir sprachen mit ihm über Hochs und Tiefs 2015 und die Aussichten 2016

Er ist gelernter Werkzeugmacher, aber fand seine Berufung in der Theologie. Doch vor vier Jahren warf Jürgen Kroll das Handtuch und verließ die Martin-Luther-Gemeinde. Den herzlichen Helfer und Wortkünstler und streitbaren Querdenker nannte sein Superintendent nicht umsonst zum Abschied „Dampfwalze“. Mittlerweile sieht sich Kroll als „pastoraler Unternehmer“, ist Autor und Berater und will mit einer Stiftung Gutes tun. Für uns schaut er auf das Jahr zurück – und gibt Tipps für ein stressfreies Feiern.

Mit welchem Wort würden Sie 2015 beschreiben?

Jürgen Kroll: Ein Wort ist schwierig. Ich würde sagen „Gut gewollt, aber schlecht vorbereitet.“ Angie hat den Obama gemacht in Deutschland und gesagt „Wir schaffen das“. Das Problem ist aber, dass die Flüchtlingskrise, die andere schon vor Jahren vorhergesagt haben, hier nicht ausreichend vorbereitet wurde. Mein Sohn arbeitet bei der Flüchtlingsregistrierung in Erding, und er erzählt von Chaos. Was mich so bewegt: Dass diejenigen, die vor den möglichen Belastungen auch für Deutschland gewarnt haben wie Paul Collier in seinem Buch „Exodus“ nicht richtig ernst genommen wurden. Und dass die Menschen, die unser Airbag sind, also die die Krise auffangen – Ehrenamtliche, Polizisten, Soldaten, die Mitarbeiter in den Auffangstationen – alleine da stehen. Bei Facebook ist mir letztens rausgerutscht: Nur Spieler kennen keine Obergrenze. Ich denke, wird nie eine gesetzt, dann hilft man nicht der Integration – im Gegenteil: Je mehr Menschen aus einem Land, mit einer Sprache, an einen anderen Ort kommen, desto weniger Integration ist nötig beziehungsweise wird möglich sein.

Beeindruckt Sie das freiwillige Engagement für die Flüchtlinge?

Es ist wie immer: Die Menschen, die das Herz haben, krempeln auch die Ärmel hoch und tun etwas Gutes. Ich würde mich am liebsten über die Hilfe rückhaltlos freuen. Aber dann lese ich, dass Tausende Menschen einreisen konnten, ohne registriert zu werden, dass die Terroristen vom IS Pässe ausstellen können. Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich bin grundsätzlich dafür, Menschen zu helfen, die ihre Heimat verloren haben. Die Politik hätte nur auf die vielen Ankündigungen reagieren müssen und den Flüchtlingsstrom vorbereiten müssen. Nur so wäre es möglich gewesen, diejenigen, die unsere Hilfe am meisten brauchen, auch intensiv unterstützen zu können.

Und wer braucht unsere Hilfe am meisten?

Menschen, die vor Verfolgung und Krieg flüchten müssen – das gebietet schon unsere Geschichte. Meine Großeltern mussten auch aus Ostpreußen und meine Eltern nach dem Zweiten Weltkrig fliehen.

Und wer nicht?

Menschen, die zu uns kommen, aber für unsere Gesellschaft nichts Gutes wollen.

Tausende helfen den Flüchtlingen, aber Hunderte protestieren auch jede Woche.

Wenn sich Menschen von der Politik veralbert fühlen, ist es klar, dass sich Protest entlädt. Aber dass es in bestimmten Ballungszentren wie bei Pegida in die falsche Richtung geht, war nicht zu erwarten.

Wie ist die Stimmung in Witten?

Ich habe nichts Negatives mitbekommen. Nur eins: Ein Bekannter wollte etwas für die Flüchtlinge in der Jahnhalle auf die Beine stellen – mit Musik und so. Doch die Stadt hat ihm nicht erlaubt, Flüchtlinge dazu einzuladen. Dass wir uns oft selbst im Weg stehen, ist leider typisch deutsch.

Sie haben sich als Pfarrer der Martin-Luther-Gemeinde vor fast genau vier Jahren verabschiedet. Haben Sie diese Entscheidung bereut?

Niemals. Ich war froh, gesund in eine neue Phase wechseln zu können.

Wie war Ihr ganz persönliches Jahr 2015?

Ich habe mich nach meinem Abschied von der Gemeinde neu erfunden, spreche bei Hochzeiten und Beerdigungen auf meine Art, habe mein erstes Buch veröffentlicht. Alles in allem war es sehr ruhig. Und ich habe ein neues Thema gefunden: das Scheitern. Ich bin selbst Experte im Scheitern. Aber eigentlich sind wir das alle: Man muss sich gar nicht bemühen, am Ende fällt man tot um. Man kann das Leben nicht festhalten, nur gestalten.

Das klingt ziemlich tiefenentspannt. Ein Rat für die festtagsgestressten Wittener?

Sie müssen sich ganz einfache Fragen stellen: Wer treibt Dich? Und hat der überhaupt das Recht dazu? Von Illusionen einer perfekten Weihnachte oder einer perfekten Silvesterparty getrieben werden wir alle schnell zu Triebtätern. Hart zu arbeiten für etwas, das uns nicht gut tut, ist Stress. Hart zu arbeiten für etwas, das uns richtig gut tut, ist hingegen Leidenschaft.

Und wie genießt man sein Leben?

Es gibt zwei Dinge, die der Seele gut tun, gegen die wir aber fortwährend ankämpfen: Das eine ist die Ruhe, das zweite das Loslassen. Zum ersten frei nach Bonhoeffer: Wer nicht mit sich selbst allein sein kann, ist auch keine Bereicherung für die Gesellschaft. Und zum zweiten: Wir hängen an Dingen, die uns einengen. Und dann trifft man Menschen, die fast nichts haben und überglücklich sind. Wichtig ist auch, dass man einen Standpunkt hat und gerade durchs Leben geht.

Wie wichtig ist dabei der Humor?

„Lachen sorgt dafür, dass die Bösartigkeit des Lebens uns nicht ganz und gar überwältigt“, hat Charlie Chaplin einmal gesagt. Und der Kroll sagt: Wer seine rekreativen Kernenergien schützt, schützt seinen Kern. Humor ist eben die vierte rekreative Kernenergie der Seele, neben Glaube, Liebe und Hoffnung.

Was ist Ihr Wunsch für 2016?

Dass wir es in Deutschland schaffen, das uns so wichtige Paradies des Wohlstandes aufzugeben, um ein neues Sinnparadies für viel mehr Menschen zu schaffen. Und ganz persönlich: Mit meiner Stiftung eine Million Euro zu sammeln, damit ich vielen Menschen helfen kann. Hoffnung ist ein positives Unkraut, das überall wächst.