Witten. . Eine von ihnen ist Ann-Kristin Graf. Die 21-jährige Theologie-Studentin hat ein Urlaubssemester eingelegt, um in der Notunterkunft helfen zu können.

In der Notunterkunft an der Jahnstraße rufen alle ständig nach „Anni“. Wo die junge Frau mit den langen blonden Haaren auftaucht, wird sie umringt von Menschen. Anni heißt eigentlich Ann-Kristin Graf, ist gerade mal 21 Jahre alt, Theologie-Studentin an der Bochumer Ruhr-Uni und legt gerade ein Urlaubssemester ein, „um hier helfen zu können“. Beinahe von Anfang an ist die Wittenerin dabei, kümmert sich um die Unterbringung der Flüchtlinge und deren soziale Betreuung.

Ein paar Brocken Arabisch gelernt

Anni weiß zum Beispiel, wo eine Mama Windeln für ihr Baby kriegt, wenn die aufgebraucht sind, bevor die nächste Ausgabe ansteht. Sie kann sich gut all die fremd klingenden Namen merken und die dazu gehörigen Gesichter, hat inzwischen auch ein paar Brocken Arabisch gelernt. „Das reicht für alltägliche Gespräche.“ So gewinnt sie schnell das Vertrauen der Menschen, die nach langer, meist beschwerlicher Reise in Witten ankommen.

„Nicht die Augen verschließen vor der Not anderer“

Sie hat einige Auslandsaufenthalte hinter sich in Ländern, die nicht gerade von Wohlstand geprägt sind. „Das ist mir sehr zu Herzen gegangen. Deshalb kann ich nun nicht die Augen verschließen, wenn Hilfe vor der eigenen Haustür benötigt wird“, sagt Carina Schoppe (28).

Die Essenerin wohnt seit acht Jahren in Witten und studiert an der Privatuni Medizin. Mitte Oktober hat sie ihr Examen gemacht, schreibt jetzt ihre Doktorarbeit und hilft im Sanitätsraum der Notunterkunft mit. Es ist gerade erst ihr zweiter Tag an der Jahnstraße. „Man kennt die Situation ja sonst nur aus dem Fernsehen. Ich war sehr gespannt, wie es hier aussieht.“ Sie sei positiv überrascht, „wie schön hier alles gestaltet ist mit den wenigen Mitteln, die zur Verfügung stehen“. Auch dass die Helfer von den Flüchtlingen als „Gäste“ sprechen, finde sie gut. „Man muss die Leute ja ohnehin schon ständig nach ihrer Nummer fragen und trotzdem vermitteln, dass sie Menschen sind.“

Carina Schoppe ist dabei, wenn die Ärzte ihre Sprechstunden abhalten. Sie kümmert sich um die Krankenakten, macht Termine, gibt Medikamente aus, leistet erste Hilfe oder versorgt Notfälle. Helfen will sie, „solange ich es zeitlich schaffen kann und gebraucht werde“.

Anni ist ständig vor Ort, meist acht bis zehn Stunden am Stück, es waren auch schon mal 17. Nur zum Schlafen geht sie nach Hause. In den Semesterferien hat sie begonnen, sich vor Ort zu engagieren. Eigentlich hatte sie nur Spenden in der Notunterkunft vorbeibringen wollen – und ließ sich sofort als Helferin registrieren. Zunächst war sie für die Kinderbetreuung zuständig, bald für die Kleiderausgabe und die Verteilung der Dinge des täglichen Bedarfs. „Die ersten drei Wochen, das war eine sehr intensive Zeit.“

Als dann das Studium wieder losgehen sollte, hat sie gemerkt: „Ich will mehr.“ Auf keinen Fall jedoch wollte sie in den Uni-Alltag zurück. „Wenn man helfen kann, muss man das tun.“ Sie habe mit 18 angefangen zu studieren, ohne vorher ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen. „Ich wollte spontan entscheiden, wann ich mit dem Studium aussetze“, sagt Ann-Kristin, die nebenbei Vorstandsmitglied im CVJM Hattingen ist und bei der Evangelischen Stiftung Volmarstein arbeitet.

„Jeden Tag kommen Menschen vorbei, die helfen wollen“

Seit die ersten Flüchtlinge am 22. Juli in die Notunterkunft an der Jahnstraße zogen, reißt die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung nicht ab. „Täglich stehen Menschen vor der Tür, die sich engagieren wollen“, sagt DRK-Sprecher Christian Schuh. „Dass Ehrenamtliche so viele Monate dauerhaft im Einsatz sind, hat es noch nie gegeben.“

Rund 1150 Bürger beteiligen sich derzeit an der Flüchtlingshilfe, ohne dafür bezahlt zu werden, und opfern ihre Zeit für den guten Zweck. „Darunter sind viele, die vorher schon aktiv waren, etwa in Kirchengemeinden oder Sportvereinen, aber auch etliche einzelne Bürger.“ Es sei „ein völliger Querschnitt durch unsere Gesellschaft“. Jeder macht das, was er am besten kann. Und damit das alles nicht im Chaos endet, hält das Rote Kreuz die Fäden in der Hand. „Vernetzt sind wir natürlich auch mit dem Help-Kiosk und anderen Diensten.“

Deutsch lernen, basteln und singen

Wer zur Notunterkunft kommt, nimmt den Weg in den ersten Stock der kleinen Jahnhalle, um sich anzumelden. Aga Pfeffer, die schon vorher ehrenamtlich beim DRK arbeitete, hat mit einem Team die Koordination der Freiwilligen übernommen. Neben dem Schreibtisch, der von acht bis 22 Uhr besetzt ist, hängt ein Plan, der inzwischen riesige Ausmaße angenommen hat. Darauf steht, „wer wann, was, wo für die Flüchtlinge anbietet“, sagt die 35-Jährige. „Wer von denen möchte, kann sich rund um die Uhr beschäftigen.“

Vormittags laufen Deutschkurse für Kinder und Erwachsene im Sprachmobil, das dauerhaft vor der Turnhalle parkt. Währenddessen werden die Jüngsten im Kindergarten oder in der Vorschule betreut. In der Feldküche brutzeln Ehrenamtliche für die Flüchtlinge. Später am Tag können die Bewohner basteln oder nähen, Schach spielen, trommeln oder singen. Oder sich sportlich betätigen. „Gefühlt alle Wittener Sportvereine machen was“, sagt Christian Schuh. Neben den regelmäßigen Angeboten stehen hin und wieder Stadtrundgänge und Museumsbesuche auf dem Programm. Auch Schulklassen engagieren sich: So sortieren Holzkampschüler mittwochs am DRK-Zentrum Kleiderspenden. Hardensteinschüler haben Waffeln verkauft und Schulsachen gesammelt, die Spenden dann vorbeigebracht und sich die Notunterkunft angeschaut.

Sie sei in einem sehr sozialen Elternhaus aufgewachsen, erzählt die Studentin. Ihre Mutter sei Erzieherin, der Vater Sozialpädagoge. „Meine Familie findet gut, dass ich das hier mache.“ Allerdings stehe fest, dass sie zum Sommersemester ihr Studium wieder aufnimmt, „sonst gibt’s doch Ärger“. Froh ist Ann-Kristin, dass ihre beste Freundin viel Verständnis zeigt: „Wir telefonieren regelmäßig. Sie ist auch schon vorbei gekommen und hat mir was zu essen mitgebracht.“ Ansonsten, sagt sie, „habe ich auch hier viele neue Freunde gefunden.“

Natürlich sei der Job oft stressig, „es gibt Tage, da renne ich nur durch die Gegend“. Natürlich berühren die Schicksale. Anni weiß, was dann hilft: „Wenn’s mal ganz schlimm wird, schnappe ich mir eins der Babys und halte es ganz fest.“