Witten. . Die Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind und nun in der Jahnsporthalle leben, fühlen sich wohl in Witten. Und sie sind überrascht.
Sie besaßen gar nichts, als sie in Witten ankamen, doch jetzt hat sich die junge Familie, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien flüchtete, so etwas wie ein kleines Nest gebaut inmitten der Notunterkunft an der Jahnstraße.
Ihre vier Wände sind aus Plastikplanen, abends schützt ein Vorhang vor den Blicken der anderen und gewährt etwas Privatsphäre. Einen Kinderwagen, ein Bettchen, die bunte Decke, auf der die neun Monate alten Zwillingsmädchen liegen – die jüngsten Bewohner der Halle – ihre rosa Strampler, das Spielzeug: All das sind Spenden. „Jeder liebt die Kleinen und will sie auf den Arm nehmen“, sagt Sabriye Bajrami. Die 20-Jährige hilft seit Juli ehrenamtlich als Dolmetscherin, denn sie spricht Serbisch, Albanisch und perfekt Deutsch. 1999 kam sie aus dem Kosovo nach Deutschland, aus Witten will sie nie mehr weg.
„Wir hätten uns damals gefreut über so viel Hilfe“, sagt Sabriye, der das Schicksal all der Menschen, mit denen sie jetzt tagtäglich zu tun hat, sichtlich zu Herzen geht. Doch ohne diese Aufgabe will sie nicht mehr sein: „Die Notunterkunft ist mein zweites Zuhause geworden.“
Der Liebe wegen nach Deutschland geflohen
Ein Zuhause auf Zeit ist es auch für Djennis (21) und Jeannetta (23). Der sympathische Albaner und die hübsche Serbin leben seit einer Woche in der Turnhalle. Weil ihre unterschiedliche Kultur die Liebe zwischen den beiden verbot, sie sich drei Jahre lang nur heimlich treffen konnten, sind sie mit dem Bus aus Mazedonien abgehauen. „Willkommen“, sagt der junge Mann lächelnd und zeigt auf die beiden Betten, die in Parzelle sechs dicht nebeneinander stehen, auf die Plastiktüten, die sich dahinter stapeln. Zum ersten Mal können die beiden in Ruhe den Tag miteinander verbringen. Und trotz der Umstände leuchten ihre Augen hoffnungsvoll. „Als sie aus der Heimat weg sind, haben sie an nichts gedacht, als an ihre Liebe und dass sie in Deutschland ein glückliches Leben führen wollen“, übersetzt Sabriye.
Die Ruhrstadt, sagt DRK-Chef Thorsten Knopp, einer von vier Unterkunftsleitern, sei bei den Flüchtlingen offenbar beliebt. „Geht nach Witten“, diese Aufforderung kursiere in anderen Camps. Mitten in der Nacht hätten schon Flüchtlinge vor der Absperrung gestanden, die direkt aus Österreich kamen. „Die haben wir per Taxi zur Erstaufnahme in Dortmund geschickt.“
Geburtstage werden gefeiert
Wer herkommt, der kriegt ein kleines Willkommensgeschenk. Wer geht, ein Esspaket für alle Fälle. In der Ecke der Turnhalle steht eine Aufladestation für Handys. Auf einer großen Tafel steht „Happy Birthday“. Ja, Geburtstage werden hier auch gefeiert, sagt Knopp. „Da haben sich schon herzzerreißende Szenen abgespielt.“ Aus Dankbarkeit habe eine Familie ihnen eine Tafel Schokolade schenken wollen. „Das kann man doch gar nicht annehmen.“
Überrascht von der guten Behandlung ist auch der 29-jährige ????. Solch selbstlose Hilfe habe er von den Deutschen nicht erwartet. Seit zehn Tagen ist der gelernte Kfz-Ingenieur hier, 40 Tage dauerte seine Flucht vor dem Terror in Syrien – ein Spießrutenlauf, zu Fuß, mit dem Auto, per Bahn. „Er kommt aus einem Ort, wo kein Stein mehr auf dem anderen steht“, dolmetscht Toni Chahine (43). Außer ihrer Würde hätten die Menschen nicht mehr viel. Ihnen deshalb mit Respekt zu begegnen und ihnen das Gefühl des Fremdseins zu nehmen, das sei ihm ganz wichtig.
Im Zelt, in dem seit drei Wochen Verpflegung und Kleidung ausgegeben werden, hängen in einer Ecke Bilder, die Flüchtlingskinder gemalt haben. Eines ist komplett schwarz, das daneben leuchtet in allen Regenbogenfarben. Ein gutes Zeichen.
Unterkunftsleiter: „Es wird schon alles klappen“
Zuletzt sind am Mittwoch 29 neue Flüchtlinge in der Jahnsporthalle angekommen. Aktuell leben 155 Menschen in der Notunterkunft. Die meisten stammen aus Syrien, Albanien, dem Irak. Waren es anfangs vor allem Familien, steigt nun die Zahl jener, die allein unterwegs sind, junge Männer vor allem. Doch die Listen mit ihren Namen können sich täglich ändern, weiß Thorsten Knopp (49) vom DRK.
Um bei so vielen Menschen den Überblick zu behalten, tragen die Flüchtlinge Bändchen mit einer Nummer am Handgelenk. Noch leben alle in der großen Turnhalle, doch bald sollen Familien und Ältere in die kleine Jahnhalle verlegt werden. Hier gibt es auch einen Raum mit Waschmaschinen und Trocknern. Gegenüber liegt die Sanitätsstation, die rund um die Uhr besetzt ist. „Man braucht irrsinnig viele Funktionsräume“, so Knopp. Und überall hängen Pläne, auch eine Treppe höher, wo sich alle Freiwilligen melden müssen, die bei Spielgruppen oder Sprachkursen helfen wollen.
Zur täglichen Organisationsflut kommt die Vorbereitung auf den Winter, denn die Unterkunft soll noch mindestens sechs Monate Bestand haben. Wasserleitungen werden gelegt, Heizungen müssen her. Bisher habe alles so gut funktioniert, dass andere Städte anfragten: „Wie macht ihr das?“ Knopp zuckt die Schultern: mit unermüdlichem Einsatz und der Gewissheit, „es wird schon alles klappen“.