Wattenscheid. .

„Kinderlandverschickung“ – was sich hinter diesem beschönigenden Begriff verbirgt, können erst Zeitzeugenberichte ins rechte Licht rücken. In dem gleichnamigen Buch schildern 30 Wattenscheider eindrucksvoll, wie sie als Kinder dieses Kapitel des Zweiten Weltkriegs erlebt haben. Zwei Jahre hat es bis zur Fertigstellung gebraucht.

Der Untertitel „Ein trügerisches Idyll“ weist bereits auf die Doppeldeutigkeit. Ebenso das Titelbild: Gelber Löwenzahn auf grüner Wiese – vordergründig heile Welt; doch Kindern wurde auch immer erzählt, dass Löwenzahnmilch giftig sei.

Mit der Kinderlandverschickung im 2. Weltkrieg ist eine Evakuierungsmaßnahme gemeint, bei der Kinder und Jugendliche aus vom Luftkrieg bedrohten Städten in weniger gefährdete, ländliche Gebiete geschickt wurden, wie Bayern, Sachsen und Ostpreußen. Sie kamen in Pflegefamilien oder wurden in KLV-Lagern untergebracht und besuchten vielfach die Schulen des Aufnahmeortes. Damit verbunden war die Trennung von der Familie, manchmal über Jahre. Die Nationalsozialisten verfolgten dabei vordergründig den Schutzgedanken, vielfach nutzten sie das KLV-Lager zugleich als Erziehungsform und zur Indoktrination.

Der Heimat- und Bürgerverein stellte das Buch nun öffentlich vor, unter den zahlreichen Besuchern waren auch viele der Buchautoren. Einer davon ist Ehrhard Salewski, der gemeinsam mit Dr. Jost Benfer die Beiträge sammelte und sichtete; auch die WAZ hatte einen Aufruf gestartet, Beiträge beizusteuern. Der 75-Jährige Ehrhard Salewski – seine Mutter war eine bekannte Hebamme – schildert in bewegenden Worten, was er damals erlebte in seiner „neuen Familie“ im Schwarzwald. Die Umstände, die er als Kind kaum begreifen konnte, sind ihm im Alter immer bewusster geworden. „Die Wirren der Zeit, der Krieg mit vielen grausamen Bildern, mit gewaltigen psychischen und physischen Belastungen für die Bevölkerung des Ruhrgebiets, eine dauernde Suche von Vätern und Müttern nach Möglichkeiten, das eigene und das Überleben ihrer Kinder zu sichern.“

Noch heute sei er übrigens seiner Pflegefamilie, die einen kleinen Bauernhof bewirtschaftete, überaus dankbar. Die Stadtkinder machten in der neuen Umgebung neue Erfahrungen. Nie vergessen hat er aber auch die Rückkehr in seine zerbombte Heimat, der Krieg hatte sein Zuhause in Schutt und Asche gelegt.

Christel Gütte (geb. Jarreck) hatte von 1943 bis ‘45 Tagebuch geführt. Die jetzt 81-Jährige beschreibt darin auch den Drill und die Ordnung im KLV-Lager. „Erinnerungen, die sich eingegraben haben ins Gedächtnis“ – ebenso wie die Strapazen der Rückfahrt und das Erleben, was der Krieg aus der Heimat gemacht hat.

Das für viele Kinder vermeintliche Idyll endete abrupt – was einige auf der Flucht vor den Fronten und im zerbombten Zuhause erlebt haben, verschlägt den Nachgeborenen oftmals den Atem. An die politischen Verhältnisse der damaligen Zeit erinnert das einführende Kapitel.

Die Kinderlandverschickung der Nazis – vom Idyll zum Grauen. Das Buch sei zugleich auch Mahnung und Warnung für heutige Generationen, betonten in ihren Grußworten Prälat Paul Neumann, Bezirksbürgermeister Hans Balbach und HBV-Vorsitzender Klaus-Peter Hülder. Nicht zuletzt auch mit Blick auf die aktuellen Schändungen jüdischer Einrichtungen.

Das Buch – jetzt im Rahmen der Schriftenreihe des Heimat- und Bürgervereins erschienen – entstand unter Mitwirkung des HBV-Arbeitskreises „Stadtgeschichtliche Fragen“. Die Verfasser bedanken sich posthum bei Hans-Bernd Gerz, dessen Anregung zur Aufarbeitung dieses Kapitels der Wattenscheider Geschichte führte. Erhältlich ist das 123-Seiten-Werk (10 Euro) beim HBV und in der Buchhandlung van Kempen und beim Weihnachtsmarkt an der Alten Kirche am 27./28. November. Ein Nachdruck (Auflage 200 Stück) ist möglich.