Haltern am See.
Amalia Beller wurde am Neujahrstag 1909 geboren. Jetzt feierte sie ihren Geburtstag im Altenheim St. Sixtus an der Gartenstraße; mit 104 Jahren ist sie die älteste Bürgerin Halterns. Und im übrigen Urgroßmutter des Top-Models Jana Beller, die 2011 die sechste Staffel der Casting-Show Germany’s Next Topmodel gewann.
Im Seniorenheim gab es für die Seniorin eigens einen gedeckten Geburtstagstisch. Die saß zufrieden und hellwach im Rollstuhl. Vier Kinder, 19 Enkel und über 30 Urenkel (genau weiß sie es nicht) gehören inzwischen zu der Großfamilie. Das jüngste Familienmitglied, Urenkelin Lea, ist acht Monate jung.
Als Amalia Fritz, so lautet ihr Mädchenname, 1909 in Saratow geboren wurde, war die Welt noch eine andere. Die Familie wohnte in Rosenfeld an der Wolga, in Deutschland regierte Kaiser Wilhelm II. und König Eduard VII. wurde Kaiser von Indien.
Wolgadeutsche
Zwei Weltkriege hat die 104-Jährige miterlebt, den Ehemann verloren, unter Stalin wurde sie 1941 nach Sibirien zwangsumgesiedelt, Deutsch zu sprechen war unter Strafe verboten. „Das war eine schlimme Zeit, von der warmen Wolgaregion in das eisig kalte Sibirien“, berichtet die Enkelin Ludmilla Lyschenko. Sie ist Krankenschwester an der Christopherus-Klinik in Dülmen und kümmert sich um die Großmutter, bei der sie aufwuchs.
Die Familie Fritz gehörte in Russland zu den Wolgadeutschen. Man sprach nur Deutsch, so wie in den meisten Dörfern der damaligen „Wolgarepublik“. Amalia heiratete, das erste Kind, eine Tochter (sie ist heute 83) wurde geboren. Drei weitere Kinder folgten. 1938 wurde ihr Mann von den Schergen Stalins verhaftet, das vierte Kind kam wenige Monate später zur Welt. Amalia Beller wird ihren Mann nie wieder sehen. Er sei vermutlich in einem Gefängnis im russischen Magadan verhungert, erzählt die Enkeltochter.
Die allein erziehende Mutter mit vier Kindern wird nie wieder heiraten. Wie Amalia die Zwangsumsiedlung, den Hunger und die Kälte in Sibirien überstanden und ihre vier Kinder durchgebracht hat, kann sie sich heute nicht mehr erklären. „Vielleicht war es ihr Durchsetzungsvermögen“, ahnt die Enkelin. Sie sei die unangefochtene Familienpatriarchin gewesen und Enkeltochter Ludmilla schmunzelt: „Manchmal hat sie noch diesen Befehlston.“ Ihr hohes Alter führt die Enkelin auf die „guten Gene“ und die Ernährung aus dem eigenen Garten und Stall zurück.
Im Jahr 2000 siedelte die Familie mit vier Generationen (darunter auch Urenkelin Jana) in die Bundesrepublik über. Da ein Enkelsohn bereits in Haltern lebt, ließ sich die Familie in der Seestadt nieder.