Recklinghausen / Vest. . Die letzten Zeichnungen der – zeitweise erblindeten – Tisa von der Schulenburg in der Kunsthalle sind eine Entdeckung, zu sehen bis zum 9. November. Es sind Werke, die einen Eindruck von ihrer Kunst jenseits des moralischen Drucks, der typisch für ihr Spätwerk ist, bieten.
An einer halbwegs vollständigen Inventarisierung dieses künstlerischen Vermächtnisses waren schon andere gescheitert. Zu großzügig verteilte Tisa von der Schulenburg, die Ordensschwester im Dorstener Ursulinenkloster und Gräfin aus uraltem preußischem Adel, ihre Rohrfeder-Zeichnungen. So sagt denn auch Prof. Ferdinand Ullrich: „Wir werden nie zu einem kompletten Werkverzeichnis kommen.“
„Kunst und Moral im Widerstreit“
Und dennoch präsentiert der Direktor der Recklinghäuser Museen elf Jahre nach dem Tod der „Künstlerin der Arbeitswelt“ (1903 bis 2001) eine echte Neuentdeckung, spricht fast schwärmerisch von jenem „kleinen Konvolut, das ich überhaupt nicht kannte“. Die letzten Werke eines 97-jährigen Lebens fügen sich in den Kontext der aktuellen Kunsthallen-Ausstellung „Kunst trotz(t) Demenz“.
Studenten und jungen Kunsthistorikern öffnete Schwester Barbara, die im Ursulinen-Kloster den Tisa-Nachlass hütet, das unverändert erhaltene Kelleratelier. Die so erschlossenen – teils überraschend farbigen, teils wie in höchster Eile mit der Rohrfeder gekratzten – Zeichnungen aus Tisas letztem Lebensjahr dokumentieren die Folgen einer „Fehlmedikation“, wie Prof. Ullrich sagt: Die Künstlerin war zeitweise erblindet oder litt an schweren Sehstörungen: Was sie auf den eigenen Blättern überhaupt noch (schemenhaft) erkennen konnte, schrieb die 97-Jährige in den Text zu den Zeichnungen.
Spätestes Werk war Kunst ohne moralischen Druck
„Tisa war nicht dement“, betont Prof. Ullrich. „Aber sie war elementar behindert.“ Für den Museumsdirektor, der in seinem Essay „Kunst und Moral im Widerstreit“ für das neue Tisa-Buch auch die lebenslangen Selbstzweifel der Künstlerin benennt, gewann das späteste Werk eine neue Qualität: „Da war Tisa ganz bei sich – ohne den moralischen Druck.“
Bis weit in die 1990er Jahre hatte die Nonne ihre Kunst stets in den Dienst gestellt: für den 1950 angenommenen katholischen Glauben – und als Protest gegen Krieg, Ausbeutung, Menschenverachtung. So harsch und kantig zu Papier gebracht, wie es ihr Werkzeug, die Rohrfeder, erzwingt. „Man will die Welt retten“, sagt Prof. Ullrich, „und hat nur die Kunst zur Verfügung.“ Das Dilemma galt auch für Käthe Kollwitz und Ernst Barlach.
Tisas Kunst war damit „aus der Zeit gefallen“. Dennoch: Sie kannte – und schätzte – den Aufbruch der Moderne aus den Ausstellungen der Kunsthalle in den 1950ern. Prof. Ullrich: „Ihr Werk als Speerspitze gegen den Modernismus aufzubauen, kann nicht richtig sein“.