Recklinghausen. .
Das Stück beginnt mit einem Hornstoß. Christoph Franken, der unglückliche, dauerschokoladenessende Lehrer Medwedenko, tritt an die Rampe, setzt das Blasinstrument an und entlockt ihm einen einzigen Ton. Der klingt nach einem Fanfarenstoß: Auftakt für die Bühne des Lebens, denn nichts anderes ist Tschechows „Die Möwe“. Das Publikum dankte mit Bravo- und Wunderbar-Rufen.
Das Leben liefert den besten Stoff, das Theater muss ihn nur in die richtige Form bringen. Alle wollen sie – wie eine Möwe – fliegen, müssen aber am Boden bleiben. Dem einen fehlt die Liebe, dem anderen das Talent, dem dritten der Mut. „Wir brauchen neue Formen“, fordert der junge Treplew, der als Schriftsteller scheitert und sich später erschießt. Mit dem Freitod ist er der Einzige, der diesem Leben entkommt.
Die Inszenierung von Jürgen Gosch, der große Regisseur, der 2009 starb, lebt von der Reduktion. Die Bühne ist ohne Ausweg - wie das Leben. Auf ihr verbringt das Ensemble den Abend. Wer keinen Auftritt hat, sitzt still im Hintergrund, vor einer schwarzen Wand. Plastisch und verloren wirken die Darsteller dort. Sie betreten oder verlassen die Szenerie durch die Publikumseingänge. Das Ensemble der „Möwe“, eine hervorragende Besetzung auf allen Posten, kämpft nicht mit, sondern um Tschechow, mit denkbar größtem Einsatz. Corinna Harfouch begeistert als überdrehte Diva Irina, die mit ihren Wut- und Schreianfällen manchmal am Rand zum Pathos steht. Meike Droste spielt die umwerfende, aggressiv-unglückliche Mascha, die leise und alkoholisiert ein Lied zu summt, in dessen Verlauf Ton für Ton ihr ganzes Unglück deutlich wird. Peter Pagel wirkt in der Rolle des Arztes Dorn wie ein Gegenpol, so nüchtern, so kühl, als seien sie dem echten Leben entsprungen. „Sie sind 60, was soll ich Sie noch behandeln?“, fragt er den alten Sorin (Christian Grashof), der wegen seines vertanen Lebens lamentiert. All diese verzweifelt komischen Lebensanekdoten, die scheinbar nebenher in der „Möwe“ erzählt werden, kommen trotz der Tragik so unterhaltsam daher, dass der Zuschauer unwillkürlich lachen muss.
„Die Sache ist die: Konstantin Gawrilowitsch hat sich erschossen“, lautet der letzte Satz eines Theaterstücks, das Tschechow trotz des traurigen Endes als Komödie verstanden wissen wollte. „Wie schön, dass es in Deutschland noch solche Regisseure und Schauspieler gibt“, murmelt ein Zuschauer am Ende beim Hinausgehen.