Marl. .
Sevim Altiok erinnert sich noch genau an ihren ersten Tag in Deutschland. Es war im Jahre 1966, „ein wunderschöner Herbsttag“, mit strahlendem Sonnenschein. Und besonders beeindruckte die damals 22-Jährige, dass alles so „sauber und ruhig“ war. Dabei: Wäre ihr Mann nicht 1964 zum Arbeiten bei den Chemischen Werken Hüls nach Marl gekommen – die junge Türkin, die als Schneiderin tätig war, hätte ihre Heimat wohl nicht verlassen. Doch heute ist sie 67, hat die meiste Zeit ihres Lebens in Marl verbracht und weiß, was wichtig ist, soll die viel beschworene Integration gelingen: „Sprache ist das A und O“. Sie selbst habe Deutsch gelernt „durch den Kontakt mit Menschen“, durchs Zuhören – und mit Hilfe von Comics.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Wirtschaftswunder mit seinem Arbeitskräfte-Bedarf, nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei gehörte Sevim Altiok zu den Zeitzeugen, die auf Initiative vor allem von Abrahamsfest und Intercent Marl am Dienstagabend im insel-Forum Interviewfragen rund um Einwanderung und Integration beantworteten. Offen schilderte sie ihre Erfahrungen, ihre Empfindungen. Etwa die Verletzung, als eines ihrer drei Kinder verunglückte und jemand sagte: Ist doch nur ein türkisches Kind. Viel Negatives aber habe sie in all den Jahren in Hüls nicht erlebt, so Altiok.
Das verbindet sie mit Nicolo Pisciotta, der mit seiner Mutter 1967 von seinem Vater nach Deutschland geholt wurde. Da war der gebürtige Sizilianer gerade mal 16 Jahre alt – und nicht sehr begeistert vom deutschen Klima: Als er eines Oktober-Morgens aufstand, lag ein halber Meter Schnee. „Da hab ich zu meinem Vater gesagt: Ich bleibe nicht hier.“ Nun, von wegen! Deutsch lernte der junge Mann, der damals wegen fehlender Sprachkenntnisse nicht zur Schule gehen konnte, bei seiner Arbeit in einer Hertener Eisdiele. Anfang der 70er Jahre fing Pisciotta beim Chemiepark an. „Bis heute habe ich in Deutschland kein Problem gehabt. Nur einmal, mit der Ausländerbehörde.“ Damals ging es um seinen in Marl geborenen Sohn, und schließlich ließ sich die Angelegenheit dann auch erledigen. Als unerlässlich für eine funktionierende Integration bezeichnet der 60-Jährige es, zusammenzuarbeiten, aufeinander zuzugehen. Ob er, könnte er die Zeit zurückdrehen, noch einmal von Sizilien herkommen würde? „Das kommt auf den Zustand des Landes an.“ Wäre der wirtschaftliche Wohlstand in Italien so gewesen wie heute, wäre er wohl dort geblieben.
So sieht es auch Yasar Ünlü (74), der mit 25 Jahren einwanderte, weil die wirtschaftliche Situation in der Türkei für ihn schlecht war, während in Deutschland Arbeiter gesucht wurden. Eine Überwindung sei es gewesen. Und anfangs auch schwer, allein das Einkaufen, so ganz ohne Sprachkenntnisse. Er habe in der Türkei in einem Dorf gewohnt, sei nur fünf Jahre zur Schule gegangen. Und er wollte immer, dass seine Kinder bessere Möglichkeiten zum Lernen haben – was in Deutschland gelang. Besonders verletzende Situationen, sagt Ünlü, habe er hier nie erlebt, im Gegenteil: Von vielen Freunden spricht er. „Ich bin gerne hier.“
Und Kadir Karakas (64), ab 1963 zunächst Bergmann in Dinslaken und heute ehrenamtlicher Intercent-Geschäftsführer, weiß sogar von positiven Seiten der Deutschen zu berichten, die er aufgenommen habe: „Pünktlichkeit“, sagt er und lacht.
Interviews auf DVD
Anlass der beiden Abende zum Thema „Einwanderung – hier angekommen“ (der erste fand im Oktober 2011 statt) war zwar der 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei, das 1961 geschlossen wurde. Zu Wort kamen aber nicht nur Zeitzeugen aus dem Mittelmeerraum, sondern auch Menschen, die mit dem Ende des „Ostblocks“ in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen sind. So der Ingenieur Dr. Wladimir Schawrin (73), der das Tschernobyl-Unglück als Grund für seine Auswanderung aus der Ukraine nennt. Und sagt: „Die zweite Heimat ist Deutschland für mich.“ Ähnlich formuliert es Boris Kogan, 1999 mit 49 Jahren aus Riga eingewandert: „Ich wundere mich, dass ich überhaupt kein Heimweh habe.“ Der Gedanke an die Zukunft seiner Tochter habe ihm geholfen, heimisch zu werden. Für Arman Antonyan (22) aus Odessa, seit zehn Jahren in Recklinghausen, gibt’s Kategorien wie „typisch deutsch“, „typisch russisch“ gar nicht. Und Halime Sertpolat, die 1989 als Zehnjährige mit ihrer Familie nach Deutschland kam und 2000 Kirchenasyl in Marl fand, sagt heute: „Ich fühle mich als Bürgerin von Marl.“ Wer genau wissen will, was die acht Zeitzeugen im insel-Forum erzählten, kann sich freuen: Sämtliche Interviews, geführt von Nevin Toy-Unkel (Tochter ehemaliger Gastarbeiter), Frauke Homann (Awo Migrationsberatung) und Hartmut Dreier (Christlich-Islamische AG), wurden von einem Team des Ausbildungsfernsehens aufgezeichnet. Per DVD sollen die Berichte bald erhältlich sein.
Wie lang die Geschichte der Zuwanderung in Marl ist, daran erinnerte Schirmherr Bürgermeister Werner Arndt: „In den 1920er Jahren gab es weit über 80 Prozent Zugewanderte in Marl.“