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Schrieben wir August dieser Tage, so würden die Sindern’schen Zimtblätter vermutlich Panikattacken provozieren. Jener harmlos dreinschauende Keks ist der brillante Versuch eines perfektionistischen Konditormeisters, eine maximale Anzahl von Kalorien auf minimaler Fläche zu vereinen. Das Ergebnis zergeht auf der Zunge und weil wir der schlanken Linie zur Vorweihnachtszeit gerne die eine oder andere Kurve gestatten, gehen die Leckerbissen weg wie warme Semmeln.

Sowieso scheint die Nahrungsaufnahme im Dezember anderen Regeln zu folgen. Wo Mäßigung sonst eine Tugend und Kalorien unsere natürlichen Feinde sind, ist plötzlich viel, wenn nicht alles erlaubt. Wir lassen es uns gut gehen, genießen, kaufen und konsumieren und sorgen so nicht zuletzt für Hochbetrieb in der Nahrungsmittelproduktion.

„Das läuft bei uns ähnlich wie beim Juwelier“, verrät Andreas Sindern. „Den Hauptjahresumsatz machen wir jetzt gerade um diese Zeit.“ Seit 22 Jahren betreibt der 48-jährige Großmeister aller Marzipankreationen, Pralinen, Plätzchen, Stollen und Schokoladen seine Werkstatt beziehungsweise Backstube plus Verkaufsfläche im Recklinghäuser Industriegebiet am Stadion. Momentan sind die Tage lang, 12 Stunden plus, und der Strom der Kunden will nicht abreißen.

Das liegt auch daran, dass die Sinderns für ihre Sorgfalt bekannt sind. Unterstützt von nur einem Lehrling produziert der Konditormeister alles selbst, aus besten Rohstoffen und völlig ohne Aromastoffe: „Horror! Das sind Lügenstoffe: Die lügen vor, dass da etwas drin ist, was da gar nicht ist. Meiner Meinung nach moralischer Betrug“, schimpft der Experte. Und wo andere sich mit simpler Bourbon-Vanille oder stinknormalem Zimt abgeben, produziert der Nationaltrainer des deutschen Teams bei der Weltmeisterschaft der Patissiers in Lyon mit echten Tahiti-Vanilleschoten und Ceylon-Zimt.

„Ein unfaires Spiel“, nennt er die Billigprodukte der Konzerne -- auch, weil die wenigsten Kunden wissen, was sie essen: Aprikosenkerne etwa könnten im Sondermüll landen (weil der Anteil von Blausäure so hoch ist) oder in Persipan, der handelsüblichen und kostengünstigen Alternative zu Marzipan verarbeitet werden. „Das hat mit Esskultur nichts mehr zu tun. Dem wollten wir was entgegenstellen.“

Der Laden läuft, wie er nur laufen kann, und die Sinderns haben alle Hände voll zu tun. „Aber ich liebe meine Arbeit, ich bin dazu berufen“, grinst der Chef, dessen Lehrjahre in Frankreich ihm nicht nur Expertise, sondern auch die Frau an seiner Seite bescherten. „Er hat mich mit Nougat geködert und dann aus dem Elsass mitgebracht“, lacht Camille Sindern, auf deren Konto die liebevolle Ladendekoration und unzählige individuell gestaltete Pralinenschachteln gehen. Den Stress der Vorweihnachtszeit tragen sie gemeinsame, mit jeder Menge Fleiß und Freude an der Arbeit.

Wer die nicht hat, kommt schnell ins Trudeln. „Der Advent ist für viele Beschäftigte in der Nahrungsmittelindustrie Stress pur“, erklärt Yvonne Sachtje, Geschäftsführerin der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Region Gelsenkirchen-Herten. „Viele sind fix und fertig.“ Die oft körperliche Anstrengung – vor allem aber die Psychologie der Stoppuhr – bringt Bäcker, Metzger, Gastronomen und Co. sowie deren Angestellte an die Grenzen der Belastbarkeit. „Auf Dauer gehen viele Beschäftigten dabei in die Knie.“

Die gesteigerten Anforderungen an Beschäftigte in der Nahrungsmittelindustrie während der Adventszeit nimmt die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten zum Anlass, auf die schwierige Situation der Mitarbeiter hinzuweisen, die dem Druck nicht mehr gewachsen sind. Der nächste Schritt wäre die Erwerbsminderungsrente, doch daran scheitern viele. „Die Hürden sind hoch“, erklärt NGG-Geschäftsführerin Yvonne Sachtje. „Oft müssen die Arbeitnehmer vorher regelrecht einen Gutachter-Spießrutenlauf machen.“ Selbst wenn der geschafft ist, stehen die Betroffenen nicht unbedingt gut da: „Wer gezwungen ist, vor dem 60. Lebensjahr in die Erwerbsminderungsrente zu gehen, wird mit harten Abschlägen bestraft.“

Schutz für Arbeitnehmer

Neben deutlich leichteren Zugängen und einer Anhebung der Erwerbsminderungsrente fordert die NGG eine vernünftige Vorruhestandsregelung. „Wir brauchen eine faire Rentenlösung für Schichtarbeiter“, sagt Sachtje und fordert die heimischen Bundestagsabgeordneten auf, sich hierfür stark zu machen. Gleichzeitig kündigt die NGG an, die Rente mit 67 im Bundestagswahlkampf zu einem zentralen Thema zu machen, „Ein Renteneintrittsalter, das die meisten nicht mehr gesund erreichen, ist sowieso Hohn“, so Yvonne Sachtje.