Vest. .
Die Verfassungsklage des Kreises Recklinghausen und seiner zehn Städte gegen das Gemeindefinanzierungsgesetz wird am Mittwoch, 22. Juni, in Münster verhandelt. Für den Kreis könnten dabei bis zu 360 Millionen Euro herausspringen.
Darauf haben sie fast auf den Tag zweieinhalb Jahre gewartet. Wenn die nahezu komplette Delegation von Bürgermeistern und Kämmerern des Kreises Recklinghausen und seiner zehn Städte inklusive Landrat Cay Süberkrüb morgen gegen halb elf den Sitzungssaal I des Landes-Verfassungsgerichtshofs in Münster betritt, zieht sie stellvertretend für mehr als 600 000 Einwohner in den Kampf um Argumente und Auslegungen.
Es geht um die Gemeindefinanzierungsgesetze (GFG) von 2008, 2009 und 2010. Sie sind aus Sicht Recklinghausens nicht verfassungsgemäß, weshalb der Kreis und seine Städte am 17. Dezember 2008 Klage in Münster eingereicht haben. Ein historischer Vorgang vor dem Hintergrund unterschiedlicher politischer Verhältnisse in den Kommunen und innerparteilicher Dispute mit der Landesregierung. Teilen die Verfassungsrichter nach dem mehrstündigen Erörterungstermin die Position der Kläger, stünden dem Kreis und seinen Städten Nachzahlungen von bis zu 360 Millionen Euro zu. Das würde die Gesamtverschuldung der Region von derzeit etwa 2,3 Milliarden Euro zwar nicht beseitigen, sondern nur lindern. Aber es würde helfen.
Chancen auf Erfolg der Klage stehen nicht schlecht
Dem Land würde eine solche Entscheidung eine empfindliche juristische Niederlage zufügen und die Verantwortung auferlegen, die Kosten des von Kreis und Städten beauftragten Gutachtens in Höhe von mehr als 300 000 Euro sowie deren Anwaltskosten in vermutlich fünfstelliger Höhe zu tragen. Zudem wäre sie wohl auch verbunden mit Forderungen anderer Städte.
Dem Vernehmen nach stehen die Chancen auf einen Erfolg nicht schlecht. „Die Stimmung ist gut“, heißt es in der Kreis-Kämmerei. „Zurecht“, wie Rechtsanwalt Michael Hoppenberg von der Sozietät Wolter Hoppenberg (Hamm) meint. „Der Verfassungsgerichtshof hat schon 1998 angemahnt, dass die Grunddaten für den Finanzausgleich angepasst werden müssten.“ Das sei lange nicht geschehen. Insgesamt zielen die Argumente in Sachen GFG darauf, dass nicht die tatsächlichen Lasten von Kreis und Städten berücksichtigt wurden (Soziallastenansatz), dass es Systemfehler in der Gemeindefinanzierung gibt (Kreisfinanzausgleich) und dass die elf hiesigen kommunalen Haushalte chronisch unterfinanziert sind (Finanzausstattung).
Auch Recklinghausens Bürgermeister Wolfgang Pantförder gibt sich zuversichtlich: „Ich kann mir gut vorstellen, dass das Gericht entscheidet, die Finanzausstattung der Kreis-Familie ist unzureichend. Ob wir im Ganzen siegen, weiß ich nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir untergehen.“
Ein Urteil wird voraussichtlich am Mittwoch noch nicht gesprochen, Hoppenberg erwartet es in zwei bis drei Monaten. Aber die Kreis-Gruppe hofft schon auf einen Fingerzeig. In der Regel, so heißt es beim Kreis, gebe es nach einer Erörterung beim Verfassungsgerichtshof einen Hinweis, worauf die Entscheidung hinaus laufen könnte.
„Krise ist nicht zu bewältigen“
Unterfüttert hat die Kläger-Position ein anerkannter Finanzwissenschaftler. Professor Dr. Martin Junkernheinrich, gebürtig aus Essen und wissenschaftlich tätig am Lehrstuhl Raumökonomie und Finanzwissenschaft der Technischen Universität Kaiserslautern, kam in seinem Gutachten „Finanzen im Kreis und finanzielle Unterausstattung“ zu alarmierenden Schlussfolgerungen für die Situation im bevölkerungsreichsten Kreis Deutschlands. Dazu gehören:
– Zentrale Ursache der Disparität zwischen Einnahmen und Ausgaben sind nur unterdurchschnittlich fließende Einnahmequellen und überdurchschnittliche Belastungen aus sozialen Leistungen
– Eingetreten sei eine Situation, „die mit normalen Mitteln der Haushaltskonsolidierung nicht zu bewältigen ist“
– Die Finanzsituation im Kreis weicht „deutlich von den ohnehin schlechten nordrhein-westfälischen Vergleichswerten nach unten ab“.
– Das Land entziehe sich der „Sicherung einer aufgabenangemessenen Finanzausstattung“ unter anderem dadurch, weil es „eher zum Ausbau als zur Rückführung kommunaler Aufgaben“ beiträgt.
Die Positionen des Gutachters haben auf der „Gegenseite“ offenbar Eindruck hinterlassen. Denn im Auftrag des Innenministeriums, noch unter der alten Landesregierung, erstellte Junkernheinrich im Vorjahr ein Gutachten mit dem Titel „Haushaltsausgleich und Schuldenabbau - Konzept zur Rückgewinnung kommunaler Finanzautonomie im Land Nordrhein-Westfalen“. Darin wird nicht nur eine stärkere Finanzierungsbeteiligung des Bundes gefordert. Schuld an der Finanzmisere der Städten und Gemeinden in NRW sei auch die Kommunalaufsicht. Die habe „alles mitgemacht“, wird der Wissenschaftlicher in der Fachzeitung „Der neue Kämmerer“ zitiert. Auch Professor Junkernheinrich wird am Mittwoch in Münster vertreten sein, um Fragen zu beantworten.