Marl. .

Es kommt nicht oft vor, dass die ersten Reihen eine halbe Stunde vor Beginn einer Veranstaltung der insel-VHS schon gefüllt sind und mehr als doppelt so viele Stühle geholt werden müssen als vorgesehen. Der Vortrag „Die Stasi und ihre inoffiziellen Mitarbeiter – Spionage in NRW und Marl“ lockte über 120 Besucher in die Bibliothek im Stern. Und die wurden von Prof. Dr. Helmut Müller-Enbergs nicht enttäuscht. Der ehemalige Chemiefacharbeiter der Chemischen Werke Hüls arbeitet seit 1992 für den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Re­publik, wegen des sperrigen Namens meist nur nach ihren Chefs benannt, Gauck- oder Birthler-Behörde.

Trotz „knallharter Konkurrenz zu Schalke“, wie insel-Chef Dr. Ulrich Brack betonte, wollten so viele Marler, darunter ehemalige und aktuelle Mitarbeiter des Chemieparks, Müller-Enbergs hören. „Er ist derjenige, der aufgedeckt hat, dass der Polizist Karl-Heinz Kurras, der 1968 Benno Ohnesorg erschossen hat, nicht nur IM war, sondern richtiger Stasi-Agent.“ Und er überraschte auch die Marler mit mancher Enthüllung.

Nach dem Studium der Stasi-Unterlagen kann Müller-Enbergs sagen, dass zur Zeit des Mauerfalls 189 000 Menschen für die Stasi arbeiteten, seit dem Zweiten Weltkrieg waren es insgesamt 620 000. „Jeder 89. Einwohner, das ist eine unglaubliche nachrichtendienstliche Überwachung.“ Nur zwei Prozent arbeiteten in der BRD, 12 000 insgesamt. 1989 waren es noch über 3000 „Spione“, die im Westen für die DDR arbeiteten, jeder Vierte kam aus NRW. Bonn (194 Stasi-Mitarbeiter) und Köln (94) waren Hochburgen der Spionage, Recklinghausen tauchte nicht auf, auch Marl zum Schluss nicht mehr.

Aber vorher: „Marl hat die Staatssicherheit interessiert. Hüls war das absolute Zentrum einer ganzen Diensteinheit in Leuna ab 1965“, so Müller-Enbergs. Welcher DDR-Bürger Verwandte im Westen hatte, die man aushorchen und benutzen konnte, wusste die Stasi haargenau. Minuziös hätten die IMs alles notiert, was sie beobachteten. Mit vielen Adenauer-Entscheidungen seien die meist politisch uninteressierten Marler etwa nicht zufrieden gewesen, wichtiger seien ihnen die teuren Straßenbahnpreise er­schienen.

Kombinate hätten seinerzeit „Bestellungen“ bei der Stasi aufgegeben, etwa 1977 nach Latexhandschuhen aus Hüls. „Die BRD war für die wie eine Art Quelle-Katalog.“ Einer der wichtigsten Stasileute war unter dem Decknamen Hans Hildebrandt der in Hüls angestellte Dr. Wolfgang Müller, so Müller-Enbergs. „Den Verdacht gab es lange“, fühlten sich einige im Saal bestätigt.

In der Tat war Müller ab 1979 unter Verdacht, aber enttarnt wurde er erst nach 1990. Weil am 17. Januar 1979 der „Worst case“ für die Stasi eintrat und ein Kontaktmann Müllers bei der Stasi in den Westen überlief, musste die Behörde davon ausgehen, dass der Marler verraten werden würde. Sofort wurden alle Verbindungen abgebrochen. Bis dahin jedoch habe Müller die chemische Industrie der DDR um Jahre vorangebracht, „Hüls wurde von 1961 bis 1979 im Osten geklont, durch einen einzigen IM“.

Und was macht Dr. Wolfgang Müller heute, wollten die Zuschauer wissen. „Er ist über 80 Jahre alt, wenn er noch lebt, und wurde nie verurteilt“, antwortet Müller-Enbergs trocken. Und dann wurde es sehr persönlich:„Ich habe Anträge mitgebracht, falls Sie selber einmal wissen wollen, ob und was die Stasi über Sie wusste.“