Herten. .

Alzheimer kommt auf leisen Sohlen, kein großer Bruch, kein Drama. Nur hier und da eine Veränderung, kaum wahrnehmbar, zu­nächst. So war es auch bei Engelbert Muhle, dem engagierten Lehrer einer Hauptschule.

Ein Lokalpolitiker, Familienvater und leidenschaftlicher Radfahrer - irgendwann hört er auf die Zeitung zu lesen. Gertrud Muhle spürt, dass ihr Mann sich verändert, die Post nicht mehr öffnet, selten ans Telefon geht, Sachen verlegt. „Aber in einer so alten, eingespielten Ehe übernimmt der eine erstmal automatisch das, was der andere nicht mehr macht“, erzählt sie und weiß heute, dass es damals schon losging, dass dies der Anfang war.

Engelbert Muhle (65) wird von seiner Frau Gertrud (67) betreut. Tochter Maria (21) ist mit Mann und Kindern, hier Sohn Hannes (8 Monate) in ihr Elternhaus gezogen um die Mutter zu unterstützen.
Engelbert Muhle (65) wird von seiner Frau Gertrud (67) betreut. Tochter Maria (21) ist mit Mann und Kindern, hier Sohn Hannes (8 Monate) in ihr Elternhaus gezogen um die Mutter zu unterstützen. © WAZ FotoPool

Vielleicht weniger Anfang als Wendung. Die Geschichte der beiden beginnt früher, optimistischer: Gertrud und Engelbert lernen sich bei der Arbeit kennen; Heiraten, weil da plötzlich jemand ist, der an vielen Stellen ganz anders, in allem wesentlich aber so ähnlich ist: „Er war immer derjenige, der Leben in die Ehe gebracht hat, der Fröhliche, der das Leben leicht nimmt. Ich war die Vernünftige, für mich musste immer alles stimmen“, erzählt Gertrud Muhle.

Gemeinsam gehen sie als Entwicklungshelfer nach Afrika; Er unterrichtet Elektrohandwerk an einer Berufsschule, sie arbeitet mit Mädchen und Frauen in einer Familienbildungsstätte, in Sambia wird auch ihre erste Tochter geboren. Jahrzehnte ist das her: In diesem Jahr feiern sie ihren 41. Hochzeitstag.

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Der Mann an ihrer Seite aber ist ein anderer geworden. 2006 bekommen die Muhles die Diagnose: Alzheimer. „Die Zeit davor war fast schlimmer, weil wir nur gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt, aber einfach nicht wussten, was los ist“, erzählt Gertrud Muhle. Es ist ein Schlag, nichtsdestotrotz: „Ich habe im Altenheim gearbeitet und wusste, was auf uns zukommt. Theoretisch konnte ich alles zur Krankheit sagen, aber selbst betroffen zu sein, hat mich sprachlos gemacht.“

Sie arrangiert sich mit Hilfe ihrer Familie, baut das Leben um, doch manches macht auch die beste Organisation nicht besser: „Es fehlt mir, einen Gesprächspartner zu haben, Antworten zu kriegen. Ich war es gewohnt, dass wir Probleme gemeinsam angehen.“ Tochter Maria nickt: „Die Persönlichkeitsveränderung, das ist das Schlimmste. Heute ist Papa teilweise ein anderer Mensch.“ Die 31-Jährige ist mit ihrer Familie zu ihren Eltern gezogen, unterstützt die Mutter bei der Pflege des Vaters. „Mir geht es nicht immer gut damit“, gesteht Gertrud Muhle. „Die Kinder haben ja auch ihre eigenen Familien.“ Langsam baut sie den Kreis derer aus, die helfen können, fragt mal Freunde, mal Nachbarn: „Leicht fällt mir das nicht immer“, gesteht die 67-Jährige. Sie muss es tun, um sich ein Stück Freiheit und Lebensqualität zu erhalten, ins Theater zu gehen oder in den Urlaub zu fahren. „Ich bleibe nicht auf der Strecke, weil ich nicht auf der Strecke bleiben will“, sagt sie in aller Stärke und gesteht dann doch, dass es ganz so einfach manchmal nicht ist: „Vieles schiebe ich sicher weg.“

Ihre Familie, sagt sie, die vier Kinder des Paares geben Halt. Gemeinsam lernen die Muhles das Loslassen, die Akzeptanz des Nichtveränderbaren, denn Alzheimer ist nicht heilbar. „Ich verabschiede mich jeden Tag ein Stück von meinem Vater“, sagt Maria.

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