Recklinghausen. .

Wir lieben den Luxus, die Verfügbarkeit aller Dinge, unbegrenzte Möglichkeiten, überall, jederzeit.

Mit dem iPhone von unterwegs mal schnell ins Internet und wenn der Magen knurrt ist die nächste Imbissbude meist keine zehn Meter weit weg. Die Zigarette danach, das Feierabendbier und zwischendurch was zu naschen: Muss alles sein, warum auch nicht. Verzicht? Hä?

„Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Aspekt der Fastenzeit: Unseren Lebensstil, den westlichen Lebensstil zu überdenken“, erklärt Pfarrer Günther Grothe, verweist auf die alljährlichen Aktionen des Hilfswerks Misereor. „Menschenwürdig leben. Überall!“ heißt der Slogan in diesem Jahr, es geht um die Armenviertel dieser Erde, um die Slums von Kambodscha, Kenia oder Peru, es geht um Armut, Gewalt oder Zwangsumsiedlung. Wer sich dem Thema öffnet, relativiert schnell die eigenen Bedürfnisse. Fast Food und Facebook sind mitnichten lebensnotwendig, auch wenn es sich mitunter so anfühlt.

In der Kirche ist die Fastenzeit längst nicht mehr Gesetz, kein in Stein gemeißeltes Gebot: „Das war früher so. Heute erlassen wir keine konkreten Vorschriften mehr“, erklärt Grothe. „Das Fasten ist zu einem Zeichen geworden, das man für sich selber gibt. Das ist jedem überlassen und muss nicht an die große Glocke gehängt werden.“ Für den Theologen sind die Wochen vor Ostern dennoch bedeutsam: „Wenn man diese Zeit völlig an sich vorbeiziehen lässt, bedeutet einem auch das Osterfest nichts.“ Wie eine Bergtour sei es: Wer die Anstrengungen des Aufstieges nicht auf sich nimmt, bringt sich um die Freude am Gipfel.

Das gute Gefühl etwas geschafft, für sich getan zu haben, den inneren Schweinehund bezwungen und sich ein Stück Freiheit erkämpft zu haben; Dieses Gefühl treibt auch all jene, die ohne theologische Basis regelmäßig fasten. Heilpraktikerin Dagmar Haag betreut Menschen, die bis zu 14 Tagen völlig auf feste Nahrung verzichten, sich nur von Wasser, Tee und Gemüsebrühe ernähren. Heilfasten erfreut sich lange schon großer Beliebtheit: „Ich habe Leute dabei, die das seit zehn, fünfzehn Jahren machen.“ Eine Erholung für Körper, Geist und Seele soll die Phase des Fastens sein: Der Körper wird entschlackt, Giftstoffe werden abgebaut, bestenfalls stellt der Fastende im Anschluss die Ernährung um: „Es geht darum, Gewohnheiten zu durchbrechen und vielleicht nachher Dinge anders zu machen“, erklärt die Expertin und erzählt, wie sehr sich durch das Fasten die Wahrnehmung verändert.

„Essen wird wieder zur sinnlichen Erfahrung, man schmeckt ganz anders. Oft rate ich den Leute, zum Ende des Fastens einmal über den Markt zu gehen und dort ganz bewusst auf Gerüche zu achten.“ Wer gesund ist, kann ohne Probleme am Heilfasten teilnehmen. Fünf Tage sind üblich.

Während dieser Zeit treffen sich die Fastenden abends bei Dagmar Haag: Anfänger haben hier Gelegenheit, Unsicherheiten zu klären. „Tagsüber ist man oft abgelenkt, aber abends, ge­mütlich vorm Fernseher, entwickelt man schon den Wunsch, zum Kühlschrank zu gehen. Deshalb treffen wir uns hier, machen Entspannungsübungen und Massagen, etwas zum Wohlfühlen.“ Urlaub für die Seele – die trotz allen Überflusses im Alltag oft zu kurz kommt.