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Zehn Jahre ist es her, da luden Prof. Dr. Boris Zernikow (46) und die Vestische Kinder- und Jugendklinik zu den ersten „Dattelner Kinderschmerztagen“ ein – einem Kongress mit dem Ziel, die Lebenswelt leidender Kinder und ihrer Familien zu verbessern. Bei der sechsten Auflage, die am diesem Samstag im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus endet, warb Zernikow im Gespräch mit der WAZ eindringlich dafür, dass unsere Gesellschaft die Bedürfnisse (schwer-)kranker Kinder nicht aus den Augen verliert.
Herr Prof. Dr. Zernikow, die Dattelner Kinderschmerztage begehen in diesem Jahr eine Art Jubiläum. Mit einem neuen Teilnehmer-Rekord?
Prof. Dr. Boris Zernikow: Ich denke, den werden wir schaffen. 2008 hatten wir insgesamt 800 Teilnehmer, in diesem Jahr haben wir allein schon so viele Voranmeldungen. Dazu kommen erfahrungsgemäß noch bis zu 200 weitere Besucher, damit sind wir der weltweit größte Kongress im Bereich Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativ-Versorgung.
Was sind zentrale Themen des aktuellen Kongresses?
Nun, letzten Endes sind dies vor allem gesellschaftspolitische Fragen. In den Fokus möchte ich hier zum Beispiel Folgendes rücken: Es gibt zunehmend mehr Kinder mit chronischen Erkrankungen, die irgendwann sterben werden, aber nicht unbedingt alle, bevor sie 18 Jahre alt sind. Ab diesem Alter aber dürfen Kinderärzte diese Patienten nicht mehr behandeln; da müssen wir jedes Mal um eine Sondergenehmigung kämpfen. Warum? Diese Frage finde ich höchst spannend. Zumal diese Patienten ja keine Erwachsenen im eigentlichen Sinne sind. Wir wollen vielmehr Menschen helfen, deren Entwicklung der eines Kindes entspricht, auch wenn sie laut Geburtsjahr volljährig sind.
Die europäische Arzneimittelbehörde hat in jüngster Zeit beschlossen, dass mehr Medikamente für Kinder entwickelt werden müssen...
Ja, doch diese Richtlinie wird von der Pharmaindustrie vielfach umschifft. So sind Tabletten in ihrem Wirkungsgehalt oft so dosiert, dass dieser für normal entwickelte 14-, 15-Jährige zwar noch okay ist, aber für Jüngere? Die Folge: Manche an sich wirksamen Schmerzmedikamente können sie für chronisch kranke Kinder nicht anwenden. Leider.
Was sind die Gründe dafür?
Zum einen habe ich den Eindruck, dass Krankheit, Tod, Sterben in unserer Gesellschaft für ältere Menschen reserviert sind. Kinder dagegen sind unsere „Wohlstandsbewahrer“. Dass es auch unter ihnen Behinderte, chronisch Kranke gibt, gerät mehr und mehr aus dem Blick. Dann geht es auch um ökonomische Interessen und schließlich um die Frage der Verteilung der finanziellen Ressourcen unseres Gesundheitssystems – in einer Phase des demografischen Wandels
Wie steht es um die Behandlung schwer- und schwerstkranker Kinder heute? Und glauben Sie an weitere Verbesserungen?
Wissensmäßig hat die Medizin seit den ersten Kinderschmerztagen Riesenfortschritte gemacht. So ist inzwischen klar, dass die tiergestützte Therapie in der pädiatrischen Palliativmedizin sehr wirksam sein kann. Oder auch, dass Mädchenschmerzen anders behandelt werden müssen als die von Jungen. Aber nicht alles, was wir könn(t)en, wird von der Politik auch finanziell ermöglicht. Diesbezüglich haben wir sogar Rückschritte gemacht. Ob sich dies noch einmal ändert? Ich hoffe das sehr, aber ich bin skeptisch.