Datteln. Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäs-)-Syndrom: Bei etwa fünf Prozent der Schulkinder wird ADHS diagnostiziert. Zu häufig werden nur Medikamente zur Behandlung verschrieben. Ein Elterntraining in Datteln zeigt Erfolge.

Vor über 150 Jahren, da hätte ihr Sohn das Vorbild für den Zappel-Philipp im „Struwwelpeter” sein können. Hummeln im Hintern, mit dem Stuhl kippeln, bis mit Getöse das Geschirr samt Tischdecke auf dem Boden landet. Die Zeichnung von Autor Heinrich Hoffmann veranschaulicht die Wirkung, die unbändiger Bewegungsdrang haben kann. Kinder, die gar nicht still sitzen können, die ihren Drang aufzuspringen, kaum unterdrücken können: Bei denen wird heute zumeist das Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)-Syndrom (ADHS) diagnostiziert.

"Immer schon sehr lebhaft"

Wie beim Sohn der 41-jährigen, alleinerziehenden Mutter aus Datteln. „Er war immer schon sehr lebhaft, immer einen Schritt voraus”, beschreibt sie den heute zehnjährigen Thomas (Name von der Redaktion geändert). Normales Bewegungsprofil: rennen, laufen, klettern, springen, „eine lange Leine wäre gut gewesen”, meint die Mutter im Rückblick auf ihr damaliges Kleinkind. Malen, basteln, mit Legosteinen etwas bauen – nicht dran zu denken.

Problematisch wurde es in der zweiten Klasse, Thomas hatte große Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, Hausaufgaben waren kaum zu bewältigen, die Fehler in Klassenarbeiten häuften sich. Im Gespräch mit der Lehrerin fiel der Begriff ADHS, der Kinderarzt schaute genauer hin und bei Thomas wurde das Syndrom diagnostiziert. Da war er acht Jahre alt. Was tun? Thomas bekam ein Medikament mit dem Wirkstoff Metylfenidat verordnet, unter dem Handelsnamen Ritalin bekannt. Die Einnahme zeigte Wirkung (siehe dazu nebenstehenden Text), aber damit wollte sich die Mutter nicht zufrieden geben. Sie hörte vom Elterntraining in der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln. Diplom-Psychologin Heike Junge führt dieses dort im Rahmen einer Studie durch.

Vorbild Eltern

Der Ansatz: „Erziehung und Umgang mit dem Kind haben Einfluss auf Verlauf und Stärke der Krankheit”, sagt die Psychologin. Und: „Das kindliche Verhalten wird maßgeblich über das der Eltern gesteuert.” Dabei geht es auch darum, die Beziehungen innerhalb der Familie zu verbessern, denn „der Blick der Eltern ist häufig nur noch auf das unerwünschte Verhalten des Kindes fokussiert”, sagt die 39-jährige Psychologin. „Es gibt Drohungen und Strafen, aber zu wenig hilfreiche Anleitungen.” Letzteres ist ein wichtiges Stichwort: „Wir sehen uns im Training genau an, wie die Standardsituationen in der Familie ablaufen und welche Chance das ADHS-Kind hat, diese erfolgreich zu bestehen”, erklärt Heike Junge.

Ein Beispiel: „Früher habe ich zu meinem Sohn gesagt: 'Geh' schon mal rauf, mach' dich fürs Bett fertig, ich komme dann gleich'”, erinnert sich die Mutter von Thomas. Was passierte? Der machte sich nicht fertig, putze sich nicht die Zähne, tat die Zahnspange nicht in den Mund. „Ich habe das als Machtkampf gesehen, dachte, er will mich provozieren”, sagt die Dattelnerin. Aber: „Das ist eine Anweisung für ein Nicht-ADHS-Kind”, so Psychologin Junge. Thomas konnte das, was von ihm gefordert wurde, nicht leisten. Heute geht seine Mutter mit ihm nach oben, leitet ihn an, macht klare Ansagen. Der zehnjährige Thomas sieht das nicht etwa als Gängelung, „für ihn ist es in Ordnung, Gewohnheit geworden, er nimmt es mit Humor”, sagt die Mutter. Die Folge: Die Abende verlaufen ruhig, es gibt keinen Kräfte zehrenden Streit mehr.

Mehr Begleitung im Alltag ist eben das, „was diese Kinder mehr an Zeit und Energie brauchen”, sagt Heike Junge. Für die Mutter von Thomas steht jedenfalls fest: Das Elterntraining, „es funktioniert, es hat in mir selbst ganz viel geändert, ich bin selbstbewusster geworden, habe mehr Geduld, Streit und Konflikte haben sich deutlich reduziert”, berichtet die 41-Jährige von ihren Erfahrungen. Was Psychologin Junge freut, die ihren Probanden mehr Zuversicht und Gelassenheit im Umgang mit ADHS vermitteln will.

Die Familie muss umlernen

Ein starker Drang nach Bewegung, nicht zuhören können, ständiges Dazwischen-Rufen, eine außerordentliche Vergesslichkeit, Unaufmerksamkeit gegenüber Details – die Liste der Symptome bei ADHS ist lang und individuell verschieden. Bei vielen Betroffenen kommt ein gestörtes Sozialverhalten dazu. Die Ursachen sind nicht vollständig geklärt, so Diplom-Psychologin Heike Junge. Bei etwa 5 Prozent der Schulkinder wird ADHS diagnostiziert, Jungen sind viermal häufiger betroffen.

Auch wenn sich die Experten hinsichtlich der Entstehung der Krankheit noch nicht sicher sind – sicher ist: Der Leidensdruck ist groß, „die Kinder fühlen sich schlecht, kriegen Druck, sie haben das Gefühl: Ich kann gar nichts richtig machen”, weiß die Psychologin. Und auch die Eltern werden im Alltag mit einem ADHS-Kind bis an die Grenzen ihrer Kraft gefordert. Wie also behandeln? Eine Studie der Gmünder Ersatzkassen (GEK) stellte fest, dass in der Praxis vier von fünf Kindern ausschließlich Arzeimittel bekommen. 2006 habe die Dosierung erneut um 31 Prozent zugenommen.

Kombination von Behandlungsformen am erfolgreichsten

Dabei ist „die erfolgreichste Behandlung die, bei der verschiedene therapeutische Maßnahmen – dazu kann auch die Einnahme von Ritalin gehören – kombiniert werden”, sagt Heike Junge. „Was aber niemals ausreicht, ist eine Medikamenten-Therapie alleine”, betont die Wissenschaftlerin. „Eigentlich muss die ganze Familie umlernen.” Das Problem: Für verhaltenstherapeutische Angebote oder Elterntrainings bestehen „sehr lange Wartezeiten, es gibt einen großen Bedarf, der aber nicht gedeckt werden kann".

Von einigen Therapeuten und Wissenschaftlern wird die Einnahme von Ritalin völlig abgelehnt. Weil das Kind bloß ruhig gestellt werde. Weil die Langzeitwirkung des Mittels nicht erforscht ist. Weil es Nebenwirkungen hat wie Appetitlosigkeit und Einschlafstörungen. „Ich sehe das Positive”, sagt Thomas' Mutter, „er kann sich besser organisieren, es herrscht nicht mehr so ein Wirrwarr in seinem Kopf. Und er selbst sagt, dass es ihm damit besser geht.” Bis zur Pubertät wird Thomas den Wirkstoff einnehmen, dann langsam ausschleichen. Dass er einmal ganz ohne Medikament auskommt, hält Heike Junge „durchaus für möglich”.

Heike Junge von der Universität Köln führt derzeit an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln Elterntrainings zur ADHS-Problematik durch. Betroffene Eltern aus dem Kreis Recklinghausen können an dem kostenlosen Programm, das im Rahmen einer Studie angeboten wird, noch bis Ende Juli 2009 teilnehmen. Es richtet sich an Eltern von ADHS-Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren. Das Training erstreckt sich über sieben Einheiten: Die Hauptbezugsperson des Kindes nimmt sechs Wochen hintereinander jeweils einmal in der Woche an Einzel- oder Gruppensitzungen teil. Dann gibt es eine vierwöchige Pause und eine Auffrischsitzung. Kontakt: 0221 470-1347.

Einen Offenen Elterngesprächskreis zum Thema ADS – ADHS gibt es ab März in Olfen. Die Treffen finden 14-tägig ab 20 Uhr im Familienzentrum, Von-Vincke-Straße 23, statt. Weitere Informationen und Anmeldung: 02595 406 oder 02595 3186. In Marl trifft sich regelmäßig eine Selbsthilfegruppe zum Thema im Hans-Katzer-Haus, Lipper Weg 78. Kontakt: 02365 24349 oder 02365 2045900.

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