Recklinghausen. .

Elf Millionen Kinder unter 15 Jahren leben in Deutschland. Drei Millionen davon, vorsichtig geschätzt, also mehr als jedes Vierte, in Armut. „Das ist für unser reiches Land ein schlichter Skandal“, meint Christoph Butterwegge.

Der Kölner Politik-Professor, einer der renommiertesten Armutsforscher hierzulande, sprach auf Einladung von Attac, Diakonie und Evangelischer Kirche über die Bilanz der Agenda 2010 und die Armut, speziell über die Frage, was Armut mit Kindern macht. Butterwegges Bilanz fällt für die Regierenden verheerend aus. In sachlichem Ton, aber im Inhalt um so nachdrücklicher kritisierte er die fortschreitende Umverteilung von unten nach oben: „Politik wird nicht für die armen, sondern für die reichen Kinder gemacht. Wenn Geld genug da ist, dass ein Sohn einen ganzen Konzern erben kann, ohne dafür Erbschaftssteuer zu zahlen, gleichzeitig aber kein Geld da ist für Mahlzeiten in Kitas, dann ist das eine Politik, die Habenden gibt und Wenighabenden nimmt.“

In Deutschland müsse, zugegeben, niemand verhungern, deshalb sei absolute Armut sehr selten. „Aber relative Armut, Armut in einem reichen Land wie Deutschland kann sehr viel bedrückender sein als Armut in einem Dritte-Welt-Land, wo fast alle arm sind“, so Butterwegge. Von spezieller Kinderarmut will er gar nicht reden: „Arme Kinder gibt es nur in Verbindung mit armen Eltern.“ Gleichwohl seien die Folgen für die Jüngsten besonders gravierend: Sie würden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, ihrer Bildungschancen und der Zukunftsperspektiven beraubt. Kinderarmut sei ein emotional besetztes und medienwirksames Thema, das eigentliche Problem jedoch sei die fortschreitende Spaltung unserer Gesellschaft in Arm und Reich.

Die Politik kümmere sich um die darin liegenden Gefahren viel zu wenig, sondern unterstütze diese Entwicklung noch, um die Gesellschaft den Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen: „Armut ist eine Drohkulisse: Die Arbeitnehmer sollen funktionieren, aus Angst jeden noch so prekären Job annehmen.“ Gerade so wie die Wirtschaft es mit ihren schlecht bezahlten, befristeten, prekären Arbeitsplätzen brauche.

An zwei Beispielen machte Christoph Butterwegge deutlich, wie Politiker vorgehen: „Das Sockel-Elterngeld von 300 Euro für Hartz IV-Bezieher wird gestrichen, doch für reiche Mütter ändert sich praktisch nichts – wer da noch nicht merkt, was in diesem Land los ist. . .“ Oder die Mehrwertsteuer: „Auf Windeln sind 19 Prozent zu zahlen, für ein Rennpferd sieben und für Aktiengewinne null.“

Auswege? Lösungen? Die hat der Professor auch: „Wir müssen Eltern in Arbeit bringen und auskömmlich bezahlen, dann geht es auch den Kindern gut!“ Gesetzlicher Mindestlohn, der Ausbau der Ganztagsbetreuung und mehr Gemeinschaftsschulen für bessere Bildung statt eines gegliederten Schulsystems, das die Privilegien der Reichen fortschreibe, sowie eine bedarfsorientierte Grundsicherung müssten her. Das dafür nötige Geld sei vorhanden, der Staat müsse nur alle Gruppen nach ihrer Leistungskraft heranziehen: Vermögende, Selbstständige, Großverdiener, Erben. „Gerechte Steuern sind die Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft ihre sozial Bedürftigen angemessen und wirksam unterstützen kann.“

Von „angemessen“ könne bei Hartz IV nicht die Rede sein. Butterwegge, Vater eines zweijährigen Kindes, belegt auch das mit einem Beispiel: „Das neue Berechnungsmodell sieht für Babywindeln sechs Euro im Monat vor.“