Datteln. .

Vor der Kaserne, vor dem großen Tor . . . steht Dieter Most in besonderer Mission. Der Stabsfeldwebel a.D. ist mit seinem alten Rad Marke Rabewick gekommen. Wie einst, als der heute 70-Jährige in seiner Eigenschaft als Spieß in der Haard-Kaserne mit gerechter Strenge für Organisation und Ordnung gesorgt hat. Heute schlendert er mit der WAZ über das Gelände.

2002, beim letzten Appell der 4. Staffel des Flugabwehr-Raketengeschwaders 21, da war „die Mutter der Kompanie“, wie Most genannt wurde, nicht mehr dabei. An diesem kühlen Augustmorgen betritt der gebürtige Hesse zum ersten Mal nach über zehn Jahren sein altes Revier. Vor ihm liegen 94 660 Quadratmeter Fläche im Dornröschenschlaf. In „wachen“ Zeiten, da hat dieser Standort den Dattelnern das Synonym Garnisonsstadt verliehen. Was Bundeswehrverfechtern wie dem damaligen SPD-Bürgermeister Horst Niggemeier stolz über die Lippen kam, bei Gegnern eher verächtlich klang.

Acht Jahre Leerstand – was die bewirkt haben, bringt Most beim Anblick der ehemaligen Mehrzweckhalle so zum Ausdruck: „Das ist ein Drama, wie es hier aussieht. Das war einmal eine gepflegte Anlage. Heute kann man nur noch abreißen.“ Die Feststellung trifft er sachlich-trocken. Um dann umso lebhafter in die Vergangenheit einzutauchen: „Das war ursprünglich eine Mehrzweckhalle.“ Sport wurde aber erst möglich, als der Kampf um den Schwingfußboden, der heute von Glasscherben und Müll übersät ist, gewonnen war. Gleich hinter der Halle liegt ein Schmuckstück unter Moos versteckt: „Das war einer der ersten Kunstrasenplätze.“ Most grinst. „Der hieß Mehrzweckplatz.“ Den Tennisplatz, den die Soldaten einst bespielten, hätte man der Kaserne nie bewilligt. Szenenwechsel: Vorbei an der von Unkraut fast verdeckten Unterkunft des US-Teams, das bis 1984 mit einem 30-bis 35-köpfigen Team in Datteln stationiert war, vorbei am zugewucherten Sanigebäude, führt der Weg zum Kantinen- und Küchenbereich mit der Mannschaftskantine. Irgendwie auch eine „Mehrzweckkantine“. Denn: hier wurde gefuttert und gefeiert. Auch der Stadtrat kam viele Jahre zu seiner Jahresabschlussfeier her, um die Verbundenheit zum Standort mit seinen in Spitzenzeiten 370 Soldaten und 50 Zivilbediensteten zu dokumentieren.

„Hier ist der Eingang zum Küchenhof.“ Most geht behutsam über ein Meer von Scherben, vorbei an Wänden, die – wie alle freien Flächen – mit Graffitis übersät sind. „Hier war der zivile Teil.“ Womit er Spülraum, Küchenbuchhaltung, Abfallbeseitigung, Kantine und Küche meint, die ohne militärischen Dienstgrad betrieben wurden. Legendär war Koch Rainer Neumann, berühmt für seine Erbsensuppe. „Für die Kegelbahn,“ lacht Most, „mussten wir kämpfen wie die Löwen“. Kantinenpächter Bruno Ziegler wohnte hier. „Hinter seinem Wohnzimmer war das Fernmeldezentrum.“ Und unter der Kantine der Sicherheitsbunker für den ABC-Ernstfall für 50 Menschen. Der nur zu Übungszwecken genutzt wurde.

Vor Mosts Bürofenster im Innendienstgebäude stand früher ein Vogelhäuschen. „Jeden Morgen, wenn ich das Licht anmachte, kamen die Blaumeisen und warteten auf Futter.“ Das Häuschen ist weg – und „die Mutter der Kompanie“ will auch nicht mehr wiederkommen. Dieter Most hat heute genug gesehen.

Bundesanstalt für Immobilienaufgaben sucht Investor

Bundesverteidigungsminister Kai Uwe von Hassel (CDU) wählte als Übergabeort für alle Flugabwehrraketen-Bataillone der Bundeswehr an die Nato am 23. Oktober 1963 symbolisch den Standort Datteln. 1986 wurden das Waffensystem Nike-Hercules abgeschafft und Vorbereitungen für das System Patriot getroffen. Kaserne und Stellungbereiche – Radarstation und Abschussbereich – wurden dafür grundsätzlich in Stand gesetzt. Gleichzeitig wurden die Flachdächer der Kasernengebäude wegen vieler Wasserschäden mit neuen Dächern überbaut. Von den hier stationierten Soldaten waren rund 200 im Jammertal und 60 an der Station in Oer-Erkenschwick eingesetzt.

Der Standort Datteln hat die öffentliche Meinung stets gespalten. Besonders 1982/83 im Zuge der kontroversen Nato-Doppelbeschluss-Diskussion war der Eingang zur Haard-Kaserne eine symbolische Grenze für Abrüstungsgegner und -befürworter.

Seit dem Ende der fast 40-jährigen Bundeswehr-Ära wird über die Folgenutzung der Anlage diskutiert. Die umstrittene Forensik blieb den Kasernen-Nachbarn erspart, für ein Hochbegabten-Internat gab es weder Geld noch eine große Lobby. Heute favorisiert die Stadtverwaltung ein Wohnmischgebiet für junge Familien, barrierefreies Wohnen und Senioren-Angebote.

Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben hat das Gelände inzwischen von der Bundeswehr übernommen und will die Anlage verkaufen. Die Ausschreibung läuft seit 2009. Europaweit. „Wir verhandeln mit Investoren in enger Abstimmung mit der Stadt“, sagt Fridolin Stephan vom Verkaufsteam. Klar sei: „Der Investor muss abreißen.“ Mit Blick auf Vandalismus setzt er nach: „Keiner hat innerhalb der Liegenschaft etwas zu suchen.“