Recklinghausen.
Ganz vorne brennt eine Kerze. Kreisdechant Jürgen Quante und sein Gast blicken lange ins Licht, während mehr und mehr Menschen den Raum betreten. Fragende Gesichter von Menschen, die statt der Kirche den Rücken zu kehren auf Antworten hoffen.
So ruhig, so differenziert wie möglich möchte Dr. Andreas Tapken, Regens des Priester-seminars in Münster, heute über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche sprechen. Jahrelang hat der 44-Jährige als Psychologe und Psychotherapeut gearbeitet und eine Reihe von Missbrauchsopfern betreut. Er kennt deren Leid, den Schmerz, die Scham. „Für die Opfer ist es meist schon unglaublich schwer, überhaupt nur anzuerkennen, dass sie sexuelle Gewalt erlitten haben“, erklärt der Theologe das oft jahrzehntelange Schweigen all derer, die jetzt sprechen. Ihre Stimmen haben die katholische Kirche in eine tiefe Krise gestürzt, vor allem aber haben sie Fragen aufgeworfen.
Ist der Zölibat schuld daran, dass Priester Schutzbefohlene missbrauchen? „Ich bin davon überzeugt, dass es diesen Zusammenhang so nicht gibt“, erklärt Tapken und beruft sich dabei vor allem auf die Einschätzung führender Forensiker. Vielmehr könne eine gewisse sexuelle Unreife dazu führen, dass betroffenen Männern das Priesteramt attraktiv erscheint. „Wer zu Hause nie aufgeklärt wurde, eine sehr rigide Sexualerziehung genossen hat, oder vielleicht selbst Opfer von Missbrauch geworden ist, der hat nie gelernt, dass Sexualität etwa Gutes und Schönes ist, das zu ihm ge-hört“, erläutert der Psychologe. „Diese Menschen betrachten möglicherweise das Zölibat als einen Sexualitätsfreien Raum, in dem sie sich dem Thema niemals stellen müssen. Doch das ist natürlich eine Illusion.“
Priesterausbildung erfordert menschliche Reife
So steht mittlerweile, anders als noch vor 20 oder 30 Jahren, die Frage nach der persönlichen Reife im Mittelpunkt der Priesterausbildung. „Wer nicht menschlich reif und ausgewogen ist, der soll und darf nicht Priester werden“, erklärt Tapken, an dessen Seminar bis zu siebzig Prozent aller Bewerber mit genau dieser Begründung abgewiesen werden. „Wir nehmen nicht Hinz und Kunz, ganz im Gegenteil“, betont der Regens und erzählt, dass gerade die Frage des Zölibats, der Sexualität immer wieder Thema der Ausbildung ist. Vielleicht mit Erfolg: Keiner der 41 Fälle, mit denen sich die Missbrauchskommission des Bistum Münster momentan beschäftigt, ist aktueller Natur.
Die Verantwortung wiegt trotz allem schwer. „Wir müssen uns den Dingen stellen, müssen aushalten, dass die Scheinwerfer der Wahrheit auf uns gerichtet sind“, erklärt Tapken, und hofft, dass künftig eine Kultur des Hinsehens auch in der katholischen Kirche kultiviert wird, ohne allerdings die gesamte Priesterschaft unter Generalverdacht zu stellen. „Und ich hege die Hoffnung, dass dies ein Prozess der Reinigung sein könnte. Vielleicht wird die Kirche am Ende wieder authentischer. Vielleicht lernen wir wieder mehr Demut.“