Herten. Gisela Linnemann ist seit vielen Jahren erkrankt. Ohne Tabus spricht sie über ihre Krankheit und davon, wie die Ärzte mehrere Male die ernüchternde Diagnose stellten. Doch durch die Krebserkrankung habe die Zeit eine andere Wertigkeit bekommen. Heute sagt sie: "Jeder Tag ist schön"
Herten/Vest. Eine Schildkröte zum Lebensfreund zu haben, der ihre Lasten trägt: Diese Vorstellung, die ein Psychologe ihr jüngst eröffnete, findet Gisela Linnemanns Gefallen. Ihr Lieblingstier hat schließlich einen starken Panzer – und den braucht es, um sie auch tatsächlich entlasten zu können. Denn die 63-Jährige hat Krebs; seit mehr als 17 Jahren.
Damals wurde ihr die linke Brust entfernt. „Danach hatte ich sieben Jahre Ruhe.” Mit Mitte 50 dann wuchs ihr ein Tumor am Hals. Wieder wurde sie operiert, wieder hatte sie „Ruhe” – gut vier Jahre waren es dieses Mal. Dann begann sich ihr Bauch immer wieder aufzublähen; die Ärzte konnten zunächst nicht sagen, warum. Bei einer Untersuchung Rosenmontag vor zwei Jahren schließlich wurden Krebsmetastasen in der Leber entdeckt und vor einiger Zeit, die Hertenerin plagten inzwischen starke Kopfschmerzen, auch noch Metastasen im Gehirn . . .
Leben mit der tückischen Krankheit
Gisela Linnemann sitzt auf dem Sofa ihres Wohnzimmers. Ihren – Folge der Chemotherapie – fast haarlosen Kopf ziert eine kess in die Stirn gezogene Kappe. Mit wachen, freundlichen Augen blickt sie einen an, erzählt über ihre tückische Erkrankung. Und wie sie lebt damit.
Der Krebs, sagt Gisela Linnemann, die erst am Morgen wieder eine Chemotherapie bekam, habe ihren Blick auf das Leben verändert. „Zeit hat für mich eine neue Wertigkeit bekommen.” Eine schöne Blume zum Beispiel oder einen Vogel auf einem Baum: So etwas nehme sie heute ganz anders wahr. „Ich genieße jeden Moment, lebe den Augenblick.” Gut, sie habe jetzt „diese Erkrankung, damit muss ich fertig werden”. Es gehe ihr zwar „nicht immer gut”. Aber: „Warum soll ich traurig sein? Jeder Tag ist schön.”
Gisela Linnemann blickt zu ihrem Mann Hans-Gerd, „meinem allerliebsten Schatz”. Mit ihm will sie nächste Woche ihren 21. Hochzeitstag und seinen Siebzigsten feiern. „30 Leute haben wir eingeladen.” Timo kommt ins Zimmer, der Achtjährige und zwei weitere ihrer sechs Enkelkinder, die 13-jährigen Mädchen Lisa und Laura, wohnen mit bei ihr. „Wir sind ein Haus, das lebt”, sagt die Hertenerin – und lacht.
Umsorgt vom Ehemann und der Familie
Voller Wärme spricht Gisela Linnemann jetzt über ihre Familie. Sie schildert, wie gut ihr Mann inzwischen den Haushalt im Griff habe; wie er sie umsorge. Sie erzählt voller Stolz von ihren vier Adoptivkindern, verrät, dass sie Ostern mit ihren Enkeln Urlaub auf einem Reiterhof machen möchte – und sagt im nächsten Satz, „dass ich immer versucht habe, mit den Kindern über den Tod zu reden”. Weil sie ihnen auf diese Weise „etwas mitgeben will fürs Leben”.
Viele Mitmenschen, sagt Gisela Linnemann, würden Krebs aus ihrem Leben verdrängen, würden ihn tabuisieren. „Keiner will etwas mit diesem Thema zu tun haben, als wenn wir eine ansteckende Krankheit hätten.” Dabei sei miteinander über diese chronische, oft als Todesbotschaft verstandene Erkrankung zu reden, doch so ungeheuer wichtig. Weil es helfe, mit dem Krebs, mit dem Betroffensein, besser umgehen zu können.
Auch für sie, gibt die 63-Jährige zu, sei die Diagnose Krebs zunächst „ein Schock” gewesen. Und als vor zwei Jahren ihre Lebermetastasen entdeckt wurden, „fiel ich in ein tiefes Loch”. Doch die Gespräche mit ihrer Familie, mit ihrer Ärztin, mit den Mitgliedern von Lotus Care, einer Selbsthilfegruppe für onkologisch und hämatologisch Erkrankte und deren Angehörige: All' das helfe ihr, „diese Zeit” durchzustehen. „Ich denke jetzt nicht mehr: Ich muss sterben. Ich will leben, so lange der liebe Gott mich lässt. Ich bin gut aufgehoben.”
Die Schildkröte als Lebensfreund: Für Gisela Linnemann hat sie viele Namen.
Diskussion im Forum: Öffentlicher Umgang mit Krebs