Im März 1908 gründete Otto Schimpf sein Modehaus in der Recklinghäuser Innenstadt. Generationen kleideten sich hier ein.Zum Jubiläum blicken zwei Mitarbeiter zurück, die mit dem Traditionsgeschäft groß geworden sind

100 JAHRE Recklinghausen. Es ist lange her. Gerd Thoben war 14, als er eine Verkäuferlehre begann. Das war 1965 und Thoben war fast noch ein Kind an einem Ort, wo sich die Klinke in die Hand gab, was Rang und Namen hatte in der Stadt. "Leute von Welt, Menschen mit Charisma", erinnert sich der heute 57-Jährige - das nötige Kleingeld inklusive. "Wir waren der Platzhirsch." Der Junge von einst klingt immer noch stolz, wenn er über seinen Arbeitgeber spricht. In diesem März vor genau hundert Jahren gründete Otto Schimpf das Geschäft an der Breite Straße. Er nannte es Hettlage, der Überlieferung nach Familienname des Münsteraner Herrenausstatters, bei dem er einst gelernt hatte.

Auch Rüdiger Verriet war beeindruckt von jenem Modehaus am Markt, das heute zwar als "Hettlage und Fischer" firmiert, nach außen aber wieder mit "Hettlage" auftritt. Auch er begann dort - fünf Jahre später als sein Kollege Thoben - eine Lehre. "Hettlage, das war die Nummer Eins", erklärt der nunmehr 52-Jährige die Entscheidung von damals. "Wer hier anfing, der hat später Karriere gemacht", fügt er hinzu. Doch aller Anfang war schwer.

Gerd Thoben - heute Verkaufsleiter - bekam das am eigenen Leib zu spüren. Gleich zu Beginn hatte sich der "kleine Revoluzzer" seinem Chef zu beugen, musste schnurstracks in den Friseursalon nebenan eilen. "Die langen Haare mussten ab", erinnert sich Thoben.

Hettlage, das war eben nicht der Kleiderschrank der 68er. Grau, braun, anthrazit - so ähnlich sah der Farbkasten aus, an dem sich die wohlhabende Kundschaft der Mittel- und Oberschicht bediente. Außerdem viele dicke, englische Stoffe. Anzug- und Mantelspezialist sei man gewesen, erklärt Mitarbeiter Verriet. In der oberen Etage arbeiteten 17 Schneiderinnen daran, Hosen, Jacken oder Mäntel nach den Wünschen der Kunden anzupassen. Das war nötig, weil es viel weniger Kleidergrößen gab, als heutzutage üblich. Aufgabe von Thoben und Verriet war es, den Kunden die Ware auf Wunsch direkt an die Haustür zu bringen - noch so ein Service, der im Laufe der Jahren auf der Strecke geblieben ist.

Längst passé auch der "Mantelsonntag", als das Modehaus morgens nach dem Kirchgang seine Türen geöffnet hatte. Aber nur bis 14 Uhr, dann war Schluss. Die Kunden damals tickten eben anders als heute. Die Herren etwa. Ihre modische Selbstbestimmung ließ noch auf sich warten. "Das meiste Geschäft haben wir in der Mittagspause gemacht. Dann kamen die Männer und probierten die Sachen an, die ihre Frauen am Morgen für sie zurückgelegt hatten", verrät Thoben das sich täglich wiederholende Spiel. Mode hatte generell einen anderen Stellenwert: "Kleidung, das waren Gebrauchssachen", so Verriet.

Erst im Laufe der 1970er Jahre bahnten sich Veränderungen den Weg. Mäntel und Anzüge verschwanden langsam aus den Regalen, auch hinter den Fenstern an der Breite Straße wechselte das Bild. "Die ersten, noch ganz konservativen Freizeitjacken kamen auf den Markt", hat Verriet beobachtet, wie sportliche Outfits allmählich die konservative Mode der 50er und 60er Jahre verdrängten. So sehr, dass sein Kollege Thoben irgendwann einmal auffiel auf der Straße. An Karneval passierte es, ein Passant rief hinter ihm her: "Guck mal, der hat sich als Gentleman verkleidet." Dabei sei Thoben, der Verkäufer, doch nur im Anzug auf dem Weg zur Arbeit gewesen.

Inzwischen trägt der Verkaufsleiter lässig ein T-Shirt unter dem hellblauen Hemd, statt der Anzugjacke tut es ein sportliches Sakko. Thoben sagt, er lebe der Kundschaft vor, was sie tragen und kaufen kann. Die Zielgruppe sei breiter, das Sortiment größer geworden. "Der Zeitgeist hat die Mode verändert" ist er sicher. Allein die Leute von Welt lassen die Kassen nicht mehr klingeln. Auch nicht an der Breite Straße. "Wir müssen um Kunden buhlen", beschreibt Thoben, wohin der Wettbewerb geführt hat. Die Recklinghäuser Mode-Wiese hat sich gefüllt, der Platzhirsch ist nicht mehr allein.Verkaufsleiter Gerd Thoben.