Vest. Unser Gesundheitssystem soll alle sinnvollen und nötigen Untersuchungen und Therapien über die gesetzlichen Krankenkassen absichern. Dennoch fallen auch für eine ganz normale Familie mit normalen „Wehwehchen” Kosten an, die schwer zu stemmen sind.
Die WAZ im Vest hat nachgerechnet, wieviel für so eine Vest-Familie anfällt. Allein für unumstritten anerkannte Therapien, Basisversorgung.
Da geht es um Kosten, die durch Zuzahlungen zu Arzneien, Hilfsmitteln, Praxisgebühren usw. entstehen. Hierbei gibt es eine Höchstgrenze, der Rest bleibt zuzahlungsfrei. Das allerdings heißt: Die Muster-Familie Müller aus Recklinghausen mit einem Kind und einem Brutto-Familienjahreseinkommen von 50 000 Euro muss erst 900 Euro ausgeben (netto!), bevor sie von weiteren Zuzahlungen befreit werden. Bei chronisch Kranken greift die Grenze bei einem Prozent des Bruttoeinkommens. Wer auf Sozialleistungen angewiesen ist, muss bis zu 83,76 Euro selbst tragen.
Was sind das für Zuzahlungen? Vater Franz Müller, unser Mustervater, hat Krankengymnastik verschrieben bekommen. An Spezialgeräten. 27 Euro – plus 10 Euro für die Verordnung – muss er je Staffel (sechs Anwendungen) selbst zahlen. Drei Staffeln hat der Orthopäde dem im Nackenbereich Geplagten verordnet: macht 110 Euro. Plus 10 Euro Praxisgebühr je Quartal, schließlich gab es auch noch Spritzen. Übrigens: Hätte der Arzt „nur” Krankengymnastik beim Physiotherapeuten verschrieben, wären je Staffel nur 20 Euro Zuzahlung angefallen. Aber immerhin: Dem Nacken geht es besser.
307 Euro allein an Zuzahlungen
Nun zu Mama Müller. Zu ihren Einlagen – Spreizfüße! – zahlte sie 25 Euro dazu. Für die teuren Bisphosphonate gegen ihre Osteoporose legt sie 10 Euro drauf, für die täglich einzunehmenden Tabletten gegen Knochenabbau ebenfalls. Alle sechs Wochen! Immerhin: Der Müllersche Sohn ist mit 14 noch von Zuzahlungen befreit. Alles in allem schießt die Musterfamilie Müller also 307 € im Jahr zu verordneten Kassenleistungen zu.
Doch es gibt noch viel mehr, das die Kassen nicht tragen (dürfen). Fast alle nicht verschreibungspflichtigen Arzneien etwa. Und das gilt nicht nur für zweifelhafte Erkältungsmittelchen, sondern auch für die sehr effektive, speziell zusammengestellte Wasser-in-Öl-Emulsion, die der Hautarzt dem neurodermitischen Müller-Sohn verordnet hat. Eine fürs Gesicht, eine andere für den Körper. 21 Euro kosten die beiden zusammen, jeden Monat. Die – nur für die schlimmsten Stellen verwendete – rezeptpflichtige Kortisonsalbe ist zuzahlungsfrei. Aber damit sind nicht alle Dauerleiden des Müller-Sohnes versorgt. Als Allergiker braucht er antiallergische Augentropfen und Nasenspray zur Linderung. Das Doppelpack zu 14 Euro reicht knapp für einen Monat. Das zahlt die Kasse nicht bei über 12-Jährigen. Macht nur für den Sohn 420 Euro. In diesem Jahr kommt hinzu, dass der Spross eine Zahnklammer braucht. Die Zahnfehlstellungsgrenze, bei der die Kasse die Kosten trägt, hat er knapp verfehlt. Der Kiefernorthopäde hat dennoch Horrorszenarien entworfen, was geschieht, wenn der Sohn keine Klammer bekommt. Also: 1000 Euro für die Klammer, allein 2008. Macht 1727 Euro, alles in allem. Gesundheit ist teuer.
Krebsvorsorge aus eigener Tasche
Vorsorge hilft, Kosten zu vermeiden. Dennoch zahlt die Kasse vieles nicht, was der Facharzt dringend empfiehlt. Als „Igel”, Individuelle Gesundheitsleistungen, bieten Ärzte solche Untersuchungen an. „Individuell”, das heißt, der Patient zahlt selbst. Obwohl die Kassen den Nutzen der „Igel” einräumen.
Stichwort Mammographie. Für Frauen von 50 bis 70 ist sie kostenlos; dabei erkranken sehr viele jüngere Frauen an Brustkrebs, häufig wird es zu spät erkannt. Kosten für die „freiwillige” Mammographie: rund 80 Euro. Dr. Vladimir Krcmar, Frauenarzt in Marl, wünscht sich zudem für die Unterleibsuntersuchung bei Übergewichtigen Ultraschall als Regelleistung: „Wenn die Fettschicht am Bauch zu dick ist, kann man nichts ertasten.” Ultraschall wird aber nur bei konkretem Verdacht bezahlt. Kosten: 30 Euro.
Halsschlagader schallen
wegen Schlaganfallgefahr
Dr. Thomas Thurner, Facharzt für Innere Erkrankungen in Herten, nennt zwei Tests unverzichtbar: die Messung des PSA-Wertes bei der Früherkennung von Prostata-Krebs (20 Euro), die die von der Kasse getragene Untersuchung ergänzt, sowie die Ultraschalluntersuchung der Halsschlagader für Menschen ab 50 Jahren als Schlaganfallvorsorge (20 Euro).
Fürs Auge gibt es keine Gratis-Vorsorge. Die Innendruckmessung inklusive Beurteilung des Sehkopfes als Glaukom-Vorsorge (Grüner Star) kostet 20 Euro. Wird Grüner Star festgestellt, zahlt die Kasse, sonst nicht. Dr. Norbert Bomholt, Augenarzt in Recklinghausen, empfiehlt Patienten ab 60 zudem, sich auf altersbedingte Netzhaut-Degeneration testen zu lassen (Kosten: 24 Euro).
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