Velbert. Anwerbeabkommen: Dursel Selli wuchs ohne Eltern auf, die hier für ein besseres Leben der Familie schufteten. Mit den Folgen kämpft sie bis heute.
Baba. In der Grundschule hört Dursel dieses Wort immer wieder, wenn Klassenkameradinnen über ihre Väter sprechen. Das junge Mädchen aus Eskişehir im Westen der Türkei hat Baba – also Vater – dagegen noch nie gesagt. Bis sie eines Tages allein über ihren Hausaufgaben brütet. Baba. Zwei Silben, vier Buchstaben, ausgesprochen in die Stille des Klassenraums und ihres Lebens. Adressiert an ihren Vater Avni, der tausende Kilometer entfernt in Deutschland als Gastarbeiter für ein besseres Leben der Familie schuftet.
Jahrzehnte später sitzt die inzwischen 51-jährige Dursel Selli an einem Holztisch des Alevitischen Kulturzentrums in Velbert und erzählt die Geschichte der Familie. Ihre Geschichte. Eine Geschichte, die es ohne das an diesem Samstag vor 60 Jahren beschlossene Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei nicht gegeben hätte. Um den Tisch versammelt sind außerdem Dursels Mutter Elif Yesildal, 72, Sohn Cagatay, 15, sowie Neffe Avni, 8. Drei Generationen, die versucht haben, „Gurbet“ – also die Fremde, das ferne Land – in „Vatan“ – also Heimat – zu verwandeln. Und des Versuchens nicht müde werden.
1971: Ein Kind ohne Eltern
Während Dursel 1970 auf die Welt kommt, sitzt Avni Yesildal schon auf gepackten Koffern. Weniger als eine Stunde nach der Geburt verliert die Tochter ihren Vater an Deutschland. Als einer von 176.972 Menschen aus der Türkei geht er in diesem Jahr in ein Land, dessen Wirtschaft nach Arbeitskräften lechzt. Nach Bäuerinnen und Bauarbeitern, Schreinerinnen und Schlossern – so wie Avni einer ist.
Wenige Monate später ist das Baby dann endgültig in der Obhut der Großeltern, die damals 22-jährige Elif folgt Avni. Er schleppt zunächst Kohlensäcke, bevor er in der Velberter Schmiede von Albrecht Woeste eine Arbeit findet. Stationen bei der Gießerei Küpper in Heiligenhaus und bei Metallverarbeiter Gustav Hammel folgen. Avni ist ein Eisenbieger, der im neuen Land ankommen will und deshalb einen Deutsch-Kurs besucht.
Elif hat als Analphabetin nicht die Voraussetzung, krempelt trotzdem die Ärmel hoch. Putzt bei einer deutschen Familie und wird dort wie eine der ihren behandelt, bevor sie ebenfalls im Eisenwerk als Monteurin anfängt. Der Lohn reicht kaum zum Leben, knapp für ein Zimmer mit kleiner Herd-Nische. Das WC auf dem Flur teilen sie sich mit Nachbarn.
„Meine Eltern haben mir sehr gefehlt, aber das wollte ich vor meinen Großeltern nicht zeigen; ihnen kein schlechtes Gefühl geben, dass ich sie weniger mag.“ Gefasst setzt Dursel fort: „Ich habe es gefühlt, aber nie gesagt.“ Wie auch, ein Telefon besitzen weder das Mädchen noch die Eltern. Nicht mal ein Foto hat sie von Elif und Avni. Neun Jahre bleibt Dursel in der Türkei. Ab 1973 mit einem weiteren Familienmitglied: Bekannte bringen Brüderchen Taner 30 Tage nach seiner Geburt per Auto nach Eskişehir.
1979: Ein Mädchen ohne Bindung
Wie sind Sie mit der jahrelangen Trennung von den Kindern umgegangen, Elif?
Im Kulturzentrum schüttelt die 72-Jährige den Kopf, schlägt die Hände vor das Gesicht, bevor sie sich auf Türkisch an ihre Tochter wendet. Die spricht aus: „Mein Vater hat nie etwas vergessen – bis sie meinen Bruder in die Türkei geschickt haben und der kleine Baby-Anzug liegen geblieben ist. Daran hat meine Mutter immer gerochen und dann geweint, ebenso wie mein Vater.“
In Velbert leben Menschen aus 117 Nationen
Zwei Seiten regelten am 30. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen zwischen dem Auswärtigen Amt in Bonn und der türkischen Botschaft, die die Entsendung von Arbeitskräften nach Deutschland möglich machte. Rund zweieinhalb Millionen Menschen bewarben sich bis 1973 um eine Arbeitserlaubnis, dann trat der Anwerbestopp in Kraft.
In Velbert stellt die türkische Gemeinde mit 2699 Staatsangehörigen die größte Gruppe (Stand Anfang 2021). Es folgen griechische (1463), bulgarische (1443) und italienische (1269) Staatsangehörige. Insgesamt leben in Velbert Menschen aus 117 Nationen.
Sie habe sich wie ein Stief- oder Gastkind gefühlt. Bitterkeit liegt in Dursels Stimme. „Ich habe meine Mutter lange nur Elif genannt. Die Bindung hat gefehlt, sie ist auch immer noch nicht da.“
An Versuchen, das zu ändern, mangelt es nicht. Die erste Chance kommt am 8. August 1979. Für die Geschwister geht es endlich nach Deutschland. Auf der Fahrt hält die Familie in Jugoslawien, Dursel bleibt erst im Auto. Sie habe sich geschämt, ihrem Vater zu sagen, dass sie auf Toilette müsse. „Er war ja wie ein Fremder.“ Um dann doch auszusteigen – und alle auszusperren. Avni bekommt den Wagen schließlich auf, dennoch: „Mir war das peinlich, ich war traurig – als würde ich nur Probleme machen. Den Rest der Fahrt war ich mausestill.“
1981: Eine Jugendliche, die Verantwortung für die Familie übernimmt
Weitere Anläufe folgen. Etwa 1981, als Schwester Armagan auf die Welt kommt. Inzwischen leben die Yesildals auf der Velberter Talstraße. Zwei Zimmer, ein elektrischer Heizkörper, keine Toilette. Die ist wieder auf dem Flur, die Dusche gar nur im öffentlichen Schwimmbad. Eine Mark 60 Eintritt – für zwei Besuche pro Woche reicht das Geld, erinnert sich Dursel.
Die 11-Jährige übernimmt Verantwortung, kocht und kümmert sich um das neue Familienmitglied. „Ich wollte Armagan schön machen, um meine Mutter zu erfreuen. Um Nähe aufzubauen, Lob zu bekommen, Zuneigung.“ Und? Dursel zuckt mit den Schultern. „Hat nicht funktioniert.“
Die Wunde einer Kindheit ohne Eltern, die für den Traum eines besseren Lebens fast alles zurücklassen, sie verheilt nicht mehr.
1985: Eine junge Frau, die ihren eigenen Weg geht
Was Dursel kaum davon abhält, sich ihre Eltern zum Vorbild zu nehmen. Sie lernt schnell Deutsch, schafft den Sprung auf das Nikolaus-Ehlen-Gymnasium (NEG), kommt dank kostenloser Ferien-Nachhilfe von Schulleiter Dr. Jürgen Wetschky durch die Mathe-Nachprüfungen. Kennt Töchter von Ärzten und Anwälten, die vom Volleyball und Tanzen schwärmen. Für die inzwischen 15-Jährige sind derlei Hobbys unerreichbar, schließlich hilft sie ab 1985 im frisch eröffneten Lebensmittelladen auf der Poststraße. Und tut das ab dem 1. September 1990 auch bei „Amigo Frucht - Avni Markt“ auf der Friedrichstraße. Ein Wort verliert sie darüber nie, ebenso wenig wie sie ihre Freundinnen einlädt.
Nach dem Fachabitur auf der höheren Handelsschule studiert Dursel BWL an der Uni Duisburg-Essen, bricht jedoch nach acht Semestern ab. Die Familie geht vor. Bis sie 2000 ihren alten Klassenkameraden Sewahattin aus Eskişehir heiratet, der in der Türkei eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen hat. Sie will alles hinter sich lassen, verlässt das Land – und fühlt sich am Bosporus doch fremd.
2002 und 2006 kommen ihre beiden Söhne in Velbert zur Welt, das Pendeln der jungen Familie zwischen zwei Welten droht Geschichte zu wiederholen. 2008 schließlich entscheidet sich der Vater für Deutschland, beide übernehmen 2015 gemeinsam mit Dursels Bruder Taner das Lebensmittelgeschäft.
Das Happy-End. Oder?
2021: Eine gemachte Frau – zuhause oder nur geduldet?
Der zurückliegende Donnerstagnachmittag auf der Friedrichstraße. Der Weißkohl für 1,99 Euro das Stück glänzt prall und prächtig wie die Herbstsonne. Bei „Amigo Frucht“ gehen Kunden ein und aus. Im Vorbeigehen grüßen sie Dursel Selli, geben lachend die Faust. „Eigentlich kann ich nicht zufrieden sein“, sagt die Chefin.
Sie erzählt von 2005, als sie am Flughafen Köln unangenehm auf der Wache befragt worden wäre. Als hätte sie etwas Illegales getan, dabei drohte nur der Aufenthaltstitel zu erlöschen. Sie habe sich daraufhin einbürgern lassen.
Sie erzählt von 2011, als ihr Vater Avni einen Schlaganfall erlitt und statt nach sechs Monaten erst wieder nach anderthalb Jahren in Deutschland einreiste. Avni Yesildal, im Integrationsrat der Stadt, engagiert in verschiedenen Vereinen, beliebt, wie seine Tochter berichtet. Die Behörden hätten dennoch auf die erloschene Aufenthaltserlaubnis verwiesen und ihm seinen Pass genommen, den er bis zu seinem Tod 2013 nicht zurückbekommen habe. Dursel: „Das hat ihn sehr getroffen, er hat doch sein Leben für Deutschland gegeben.“
Sie erzählt vom 15-jährigen Cagatay und dem achtjährigen Avni. Erstgenannter hat das silberne Schwimmabzeichen der DLRG, lernt auf der Langhalslaute „Saz“ zu spielen. Zweitgenannter tritt bei der SSVg als Linksverteidiger gegen den Fußball, kocht zuhause Spaghetti und gefüllte Weinblätter. „Ich wollte, dass die Kinder es immer besser haben als wir“, sagt Dursel. Und berichtet von einem Tadel für ihren Sohn und einen Freund, weil sie kräftig gegen die Tür der Schulturnhalle gehämmert hätten, um sich Gehör zu verschaffen – während der Dritte im Bunde, ein deutschstämmiger Sohn eines Anwalts, keine Strafe bekommen hätte.
Sie erzählt vom 29. Oktober des vergangenen Jahres, als direkt um die Ecke die Konkurrenz eröffnete. Mit Musikbox und Mikrofon habe sie gleichzeitig um Kunden werben wollen, natürlich wäre es etwas lauter geworden. Sie zeigt Videos von dem Tag. Ein Herr Leiendecker, der bereits vor 35 Jahren bei der Eröffnung des Ladens dabei gewesen sei, preist fröhlich Bananen und Waschmittel. „Dann kamen Mitarbeiter vom Ordnungsamt und haben gesagt, ich soll meine Sachen rein räumen.“ Unterstützt fühle sich Dursel von der Stadt als langjährige Steuerzahlerin nicht, grade 2020 zwischen Corona und Konkurrenz. „Sie haben nicht zu mir gehalten“, sagt sie – und hat sich entschieden, nicht mehr in Velbert zu investieren.
Dursel Selli: „Ich werde kämpfen“
„Eigentlich kann ich nicht zufrieden sein.“ Dursel Selli, was bedeutet „eigentlich“?
Sie habe immer Hindernisse in ihrem Leben gehabt, antwortet Dursel, „aber ich habe es trotzdem immer geschafft. Ich weiß, dass ich eine starke Frau bin und kämpfen werde.“ Bald möchte die 51-Jährige zwei neue Lebensmittelläden in Wülfrath und Recklinghausen eröffnen, sie sollen „Elfi Markt“ heißen. Nach dem Spitznamen ihrer Mutter.