Oberhausen. . Der NRZ-Korrespondent Martin Gehlen referierte über aktuelle Entwicklungen im Nahen Osten. Der Blick ging vor allem in den Irak, wo derzeit Kämpfer der ISIS weiter im Land vorrücken. Mehr als 70 interessierte Zuhörer in der Stadtbibliothek lauschten dem Vortrag.

Vorrückende ISIS-Kämpfer im Irak, ein langanhaltender Bürgerkrieg in Syrien, Eingriffe in die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei: Viele Länder der islamischen Welt erleben derzeit politische Krisen, in einigen Fällen kann sogar von Krieg und zerfallenden Staaten gesprochen werden. Der weit gereiste Journalist Martin Gehlen, seit sechs Jahren Korrespondent der NRZ im Nahen Osten und der islamischen Welt, gab mehr als 70 Lesern dieser Zeitung bei einem Vortrag in der Oberhausener Stadtbibliothek Einblick in diese Weltregion.

Schwerpunkt Irak

Durch die aktuellen Entwicklungen im Irak bedingt, legte Gehlen einen Schwerpunkt auf die Situation im Zweistromland. „Bei den vorrückenden Kämpfern der Gruppierung Islamischer Staat im Irak und in (Groß-)Syrien (ISIS) handelt es sich um Menschen, die von einer so genannten ,reinen Welt’ träumen.“ Sie wollen nicht nur den Irak von aus ihrer Sicht Ungläubigen befreien, ihr Fokus geht weit darüber hinaus. „Doch nicht alle Kämpfer, die sich der ISIS-Offensive angeschlossen haben, sind Islamisten.“ Auch sunnitische Iraker, welche sich durch die schiitische Zentralregierung in Bagdad nicht repräsentiert fühlen, sind bei ISIS zu finden. „Viele Sunniten fühlen sich vernachlässigt und diskriminiert. Staatsposten werden fast ausschließlich mit Schiiten besetzt.“

Dem Korrespondenten ging es daneben jedoch auch um das Wesen und die Ausprägungen des politischen Islam. Kann es einen islamischen Staat geben, der persönliche Freiheiten und demokratische Strukturen vereint?, lautete eine seiner Kernfragen. „Nach meiner Einschätzung und meinen Gesprächen mit islamischen Gelehrten kann ich hier nur ein deutliches ,Ja’ aussprechen.“ Er schränkte jedoch zugleich ein. „Durch Eingriffe in die Privatsphäre der Menschen sind islamische Staaten bislang immer wieder gescheitert.“ Beispiele dafür seien Ägypten oder der Iran. „Momentan ist der Islam noch nicht so weit.“

Gehlen rief in diesem Zusammenhang auch die Geschichte der katholischen Kirche in Erinnerung. „Auch der Vatikan hatte seine Schwierigkeiten mit der aufkommenden Moderne. Das Konzept der allgemeingültigen Menschenrechte wurde zunächst im 19. Jahrhundert verdammt.“ Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil habe sich die Kirche der modernen Welt geöffnet.

Interesse am Salafismus-Phänomen

Diesen Punkt haben gewisse Teilströmungen des Islam noch nicht erreicht. „Gerade bei den Sunniten, zu denen auch die ISIS-Kämpfer im Irak zählen, besteht die Schwierigkeit, dass es keine zentrale theologische Instanz gibt.“ „Westentaschen-Imame“, die ihr Wissen um den Islam aus einfachen Flugblättern haben, würden ihre simplen Lehren etwa in Syrien und dem Irak verbreiten. „Bei den Schiiten gibt es dagegen Strukturen, die ähnlich der katholischen Kirche sind.“

Die Zuhörer im Bert-Brecht-Haus wollten zudem wissen, wie Gehlen das Phänomen des Salafismus in Deutschland einschätzt. „Das ist der Reiz der einfachen Lösungen, den junge Menschen dort erkennen. Das Weltbild des Salafismus lässt sich in einigen wenigen Worten beschreiben.“ Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in der Gesellschaft nicht zurecht finden, ausgegrenzt und vielleicht sogar diskriminiert werden, suchen einen Ausweg, eine Zuflucht. „Und sie finden ihn in diesen einfachen Botschaften“, so Gehlen. „Die Mehrheitsgesellschaft muss diesen Entwicklungen jedoch entschieden entgegentreten“, lautete sein Appell zum Abschluss.