Die „Turbos” wohnen, essen, streiten und putzen zusammen. Fast wie in einer normalen Familie. Doch die fünf Jungs leben unter einem Dach, weil ihre Eltern mit ihnen überfordert sind.
Mike war sechs Jahre alt, als er das erste Mal eine neue Familie bekam. Seine Mutter war viel zu jung und schwer krank. Mit dem Kleinen war sie völlig überfordert, sie musste sich um sich selbst kümmern. Und Mike war ein schwieriges Kind. In der Pflegefamilie wurde es nicht besser. Im Gegenteil. Immer öfter war der Junge aggressiv. Er wusste einfach nicht, wie er mit seiner Wut umgehen sollte. Wenn ihm gar nichts mehr einfiel, und das kam oft vor, schlug er zu.
Wenn man Mike jetzt so sieht, kann man das alles gar nicht glauben. Ein netter 16-Jähriger sitzt da, mit etwas rebellischer Frisur vielleicht, aber sonst? Schüchtern eher, den Blick meistens gesenkt. Ein Elternschreck sieht anders aus. Doch die Geschichten kommen aus seinem eigenen Munde. Er erzählt selbst, was ihm widerfahren ist – und was er anderen angetan hat. Mike hat offenbar etwas Wichtiges gelernt: Ehrlichkeit.
Als auch die Pflegefamilie seine Aggressionen nicht mehr in den Griff bekam, wurde Mike weitervermittelt. Erst in eine Diagnosegruppe in Essen, von dort aus ins Kinderheim des St. Elisabeth-Stifts in Gelsenkirchen. Inzwischen ist Mike noch einmal umgezogen, in eine Wohngruppe des Kinderheimes in Oberhausen. Ein letzter Ausweg für ihn, denn auch im St. Elisabeth stand er kurz vor dem Rauswurf.
„Ich hab einfach zu viel Mist gebaut”, sagt Mike, fast ein bisschen reumütig. Trotzdem hat er es geschafft, das Herz von Erzieherin Helga Casadei zu erobern. Zumindest hielt sie den „Fall Mike” nicht für aussichtslos, setzte sich dafür ein, dass der Junge noch eine Chance bekam. Und nahm ihn mit, als sie Leiterin einer neuen Wohngruppe in Oberhausen wurde.
Die „Turbos”, wie die fünf Jungs zwischen 13 und 17 Jahren sich genannt haben, bewohnen ein kleines Häuschen mit Garten in Sterkrade. Weihnachten gehen alle zusammen los und besorgen eine Tanne, es gibt Geburtstagspartys und in diesem Sommer sogar eine gemeinsame Reise ans Meer. Alles wie in einer ganz normalen Familie, „nur eben mit ein paar Kindern mehr”, sagt Helga Casadei lachend. Die Erzieherin lacht gerne und oft, und das, obwohl ihr Job mit viel Stress verbunden ist.
Klar hätte es auch schon körperliche Übergriffe gegeben, auch die Polizei sei schon da gewesen, doch Helga Casadei und Paul Rüther, Heimleiter des St. Elisabeth-Stifts wollen solche Ausnahmefälle nicht in den Vordergrund stellen. Was für sie zählt, ist der Erfolg. Seit fünf Jahren reißen sich die „Turbos” zusammen, kommen ihren Pflichten in der Wohngemeinschaft nach – und bessern sich.
„Keiner hatte eine unentschuldigte Fehlstunde auf dem letzten Zeugnis”, sagt die Erzieherin und klingt so stolz wie eine richtige Mutter. Auch dass inzwischen alle in die Schule gehen, drei sogar in eine Regelschule, war nicht immer so. Das Hauptziel, erklärt Casadei, sei, dass die Jungs sich normal verhalten. Dass sie lernen, Konflikte zu lösen. Ohne aggressiv zu reagieren.
Klettern, Zelten, Gartenarbeit sind dabei wichtige pädagogische Bausteine. Auch der regelmäßige Kontakt zu den Eltern. Ganz besonders scheint jedoch die Konsequenz zu fruchten, im Haus gelten strikte Regeln.
So sehr die „Turbos” Mike geholfen haben, jetzt freut sich der 17-Jährige auf die eigene Wohnung und eine Ausbildung. Er ist der erste, der flügge wird. „Früher haben alle gesagt, das schaff ich nicht”, sagt Mike, „und irgendwann glaubt man das auch selbst”. Doch er hat es geschafft – bis hierhin. Helga Casadei ist stolz auf ihn. Und ein bisschen traurig: „Eigentlich möchte ich ja keinen der Jungs abgeben.”