Genauso gut hätten sich Regisseur Tilman Knabe und die Dramaturgen Tilman Raabke und Judith Weißenborn auf den Weg zum Gipfel des Mount Everest aufmachen können. Doch statt des mit 8848 Metern höchsten Bergs der Erde wählten sie eine noch größere Herausforderung. „Wir machen etwas, was nicht zu schaffen ist“, sagt Tilman Raabke im Bewusstsein, schon überm Berg zu sein. Aus den drei Dramen William Shakespeares, „Heinrich IV. Erster Teil“, „Heinrich IV. Zweiter Teil“ und „Heinrich V.“, destillierten sie die Quintessenz. Den hochprozentigen Tropfen nennt das Theater Oberhausen schlicht „Heinrich“. Zur Premiere oder vielleicht besser zur Gipfelstürmung wird am Freitag, 24. Mai, um 19.30 Uhr ins Große Haus eingeladen.
„Großartige Arbeit“
„’Heinrich’ ist ein Stück über Politik, über Krieg und darüber wie Menschen mit dem Krieg umgehen“, erklärt Tilman Knabe. Hinter diesen Worten lauert die Aktualität des Stoffs. Denn Shakespeare blickte tief in die Seele der Menschen, und deren Abgründe sind die, die sie waren. Aber wie war dieses Gespinst aus Lügen, Intrigen, Abgründen und aus prallem Leben dreier Dramen auf den Punkt zu bringen? Knabe, der auch zu den bedeutendsten deutschen Opernregisseuren zählt, bescheinigt den Dramaturgen jedenfalls schon einmal, „großartige Arbeit“.
Tilman Raabke und Judith Weißenborn konzentrierten sich bei ihrer Kurzfassung der je fünfteiligen Werke auf die Figur Heinrich V., zunächst Heinz genannt. Raabke: „Wir zeigen, wie Prinz Heinz zum Hallodri wird. Wie er nach dem Tod des Vaters an die Macht kommt und sich dann als Heinrich V. als Hardliner erweist, der sofort in den Krieg zieht, weil er auch König von Frankreich werden will.“ Und möglicherweise gibt es sogar so etwas wie ein Happy End. So besiegt Heinrich V. zwar die Franzosen. Doch nach dem Sieg wird Frieden geschlossen. Heinrich V. heiratet die französische Prinzessin Katharina. Damit ist ihm nach dem Tod des französischen Königs auch dessen Thron sicher. „Womöglich hat er die Prinzessin wirklich geliebt“, überlegt Raabke.
Dann stellt der Chefdramaturg des Theaters eine wilde These auf: „Belügen tun nur Väter ihre Söhne und Söhne die Väter. Sie lügen aus der Not des Nichtgeliebt-Werdens.“ So denkt Heinrich IV., sein Sohn liebe ihn nicht, und Sohn Heinz glaubt, die Liebe des Vaters nicht zu haben.
Störung zwischen Vater und Sohn
„Aufgrund dieser Störung zwischen Vater und Sohn flüchtet der künftige Regent in die niedere Welt der Kneipen und Bordelle“, erläutert Raabke. In Sir John Falstaff findet er einen Gegenvater. „Falstaff ist ein unmoralischer Mensch, mit einer anarchischen Freiheit im Denken und mit Wortwitz“, sagt Raabke. Aber als Vater und Sohn schließlich doch zueinander finden und erfolgreich Seite an Seite in der großen Schlacht von Shrewsbury gegen Aufständische kämpfen, lässt Heinz Falstaff fallen und mit ihm das „bunte Leben“, wie Raabke sagt. Oder wie Falstaff, auch dicker Hans genannt, es im Stück ausdrückt: „Den dicken Hans verbannen, heißt alle Welt verbannen.“
„Heinrich“ sei eine große Herausforderung für die rund 50 Schauspieler, aber auch für das von Alfred Peters gestaltete Bühnenbild, erklärt Raabke. „Shakespeare schneidet so was schnell.“ Die rasanten Wechsel der Szenen seien atemberaubend. Was so eine Gipfelstürmung ja wohl auch auf jeden Fall ist.
Hauptsache, die Akteure des Theaters schaffen es, die Zuschauer mit in schwindelnde Höhen zu nehmen.