Oberhausen..

Sie haben oft ein jahrelanges Versteckspiel hinter sich. Dabei sind sie nicht allein: Rund 11.000 Oberhausener können weder lesen noch schreiben. Die Volkshochschule bietet pro Jahr drei Kurse an – die fast immer ausgebucht sind.

Woran liegt es, wenn Menschen, die teils zehn oder mehr Jahre die Schule besucht haben, am Ende nicht schreiben und lesen können? „An zu wenig Förderung“, bringt VHS-Bereichsleiterin Hildegard Renner die Hauptursache auf den Punkt. Damit sei einmal die mangelnde Unterstützung in der Familie selbst gemeint. „Manche Eltern können ihren Kindern gar nicht helfen, weil sie selbst eine schlechte Schulbildung haben“, so Renner. Geradezu fatal werde es, wenn der Stoff in den ersten zwei Grundschuljahren nicht sitze. „Da erlernen die Kinder die Grundlagen, wer hier etwas verpasst, holt das nie wieder auf.“ Auch, weil sich in den Schulen später niemand mehr verantwortlich fühle.

Furcht vor Entdeckung ist groß

„Sicher, es gibt engagierte Pädagogen, die den Kindern in Eigenleistung eine gezielte Förderung anbieten“, räumt Renner ein. Aber es fehle eine offizielle Förderungskultur mit der entsprechenden Lehrkräfteausstattung. Erschreckend: „Ich gebe diese Kurse seit über 18 Jahren und es hat sich nichts verändert“, stellt Kursleiterin Birgit Schreiber fest. „Es sind nicht mehr Schüler geworden, aber auch nicht weniger.“

14 Teilnehmer zählt der Kurs am Mittwoch. „Das Vormittagsangebot ist für Mütter oder Arbeitslose eingerichtet worden“, erläutert Schreiber. Die Abendkurse würden hauptsächlich von Berufstätigen genutzt. Ein Großteil der Betroffenen habe eine gewisse Meisterschaft darin erlangt, das Handicap zu vertuschen. „Mal fehlt angeblich die Brille, mal ist man zu beschäftigt, um etwas zu lesen und bittet dann die Kollegen.“ Die Furcht vor Entdeckung – vor allem durch den Chef – ist groß. Hildegard Renner weiß: „Denn da wäre meist eine Entlassung die Folge.“

Es geht nicht ums Vergleichen

Die VHS-Kurse haben eine lange Laufzeit, um die Teilnehmer individuell auffangen zu können. So mancher holte sogar den Hauptschulabschluss nach. „Jeder erhält das Unterrichtsmaterial, das auf seinen Wissensstand zugeschnitten ist“, erläutert Schreiber. Eine Klassensituation werde damit vermieden. „Es geht nicht ums Vergleichen, sondern um die kleinen, persönlichen Erfolge“, ergänzt Renner.

Ein Einstieg ist auch während des Semesters möglich. Einfach mal nachfragen:  825-2511.

Selbstständiger werden

Was hat die Teilnehmer bewegt, ihre Scham zu überwinden? Hier ihre Geschichten.

Nassira (32) lebt seit sieben Jahren in Oberhausen. Sie kommt aus Marokko, ist auf dem Land aufgewachsen und von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt worden. Als sie sich von ihrem Mann trennte, beschloss sie, auf eigenen Beinen zu stehen. Ihre Chefin, Nassira ist Bürogehilfin, unterstützte sie dabei, ging mit ihr zur VHS. Das große Ziel der 32-Jährigen: „Ich will Krankenschwester werden.“

Peter (53) ist trockener Alkoholiker, lebt in einer Einrichtung für betreutes Wohnen. Er sagt: „Wir waren 52 Kinder in einer Klasse, meine Mutter hat noch sechs weitere Kinder, sie hatte keine Kraft, mich zu fördern.“ Nun will er selbstständiger werden, erledigt auch Behördengänge alleine. „Ich sage offen, dass ich nicht gut lesen kann, meist ist das Entgegenkommen groß.“

Träume verwirklichen

Auch Markus ist trockener Alkoholiker. Der 30-Jährige leidet an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Störung. Eine Ausbildung zum Maler brach er ab, weil ihn das schnelle Geld als Hilfsarbeiter lockte. „Das bereue ich.“ Sein Traum: „Eine richtige Ausbildung machen.“

Birgit (41) weihte die Schwiegermutter ein, die informierte den Mann. „Er schickte mich zur VHS.“ Jetzt ist die 41-Jährige auf den Geschmack gekommen. „Ich versuche nun, alles selbst zu lesen.“

Thorsten (35) möchte eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft machen. Noch arbeitet er in der Gastronomie. „Aber ich will den Hauptschulabschluss nachholen.“

Melanie (27) hilft im Kindergarten aus. Sie sei in der Schule gemobbt worden, schwänzte viel, wurde später aber doch noch Hauswirtschaftshelferin. „Mit dem VHS-Kurs versuche ich einen Neustart, meine Eltern rieten mir dazu.“

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