Gudrun Bollinger kann sich in der Bibliothek stundenlang aufhalten. Zwischen den Bücherregalen fühlt sie sich am wohlsten und findet Inspirationen für ihre selbstgeschriebenen Geschichten.
„Ich kann mich hier stundenlang aufhalten.“ Wenn Gudrun Bollinger Zeit für sich hat, dann taucht sie in der Oberhausener Stadtbibliothek in die Welt der Dichter und Schriftsteller ein. „Drei- oder viermal in der Woche bin ich hier zu Gast“, erzählt die passionierte Geschichtenschreiberin, die immer auf der Suche nach Inspiration ist. Im NRZ-Gespräch schildert sie die besondere Faszination von Bibliotheken und warum eine hohe Frustrationstoleranz beim Schreiben hilfreich ist.
„Ich muss etwas in der Hand haben, der Geruch von Büchern und das Knistern beim Umblättern der vergilbten Seiten gehören einfach dazu. Ebenso die alten Fotos in den Büchern.“ Sobald Gudrun Bollinger von ihrem Lieblingsort zu erzählen anfängt, bekommt man selbst Lust, durch die Gänge der Bibliothek zu schlendern. „Am Computer zu sitzen und sich dort Ideen zu holen kann ich mir einfach nicht vorstellen.“ Darum ist die 55-Jährige auch mehrmals in der Woche in der Stadtbibliothek, um sich Ideen für neue Geschichten zu holen. „Ich kann hier richtig in diese Welt eintauchen. Unterm Strich, bin ich bis zu fünf Stunden hier“, so Bollinger.
„Wenn ich in die Bibliothek komme, gehe ich erstmal zu den Tageszeitungen. Dann geht es weiter. Da ich sehr gerne Biografien lese, suche ich da immer nach etwas Spannendem.“ Sollte sie da nicht fündig werden, dann zieht sie zu den Dichtern. „Mein Liebling ist Theodor Storm.“
Manchmal, das gesteht Gudrun Bollinger auch selbst ein, übertreibt sie es ein wenig. „Die Einkäufe muss ich auf jeden Fall vorher erledigen, sonst vergesse ich die. Denn selbst wenn ich nur kurz für fünf Minuten reinspringen will, bleibt es eigentlich nie dabei.“ Es kam sogar schon vor, dass sie der Hausmeister höflich auffordern musste, zu gehen. „Das war in einer Bibliothek in Essen. ‘Sie finden ja auch kein Ende’, sagte er zu mir.“ Gudrun Bollinger entgegnete sofort: „Ihr macht immer zu früh Schluss.“
Neben dem Lesen, ist das Geschichtenschreiben ihre andere große Leidenschaft. „Das hat schon in jungen Jahren angefangen. Mit 13 habe ich meine erste Geschichte für die Kinderseite einer Zeitung geschrieben.“ In ihren Erzählungen verwebt sie eigene Erfahrungen mit Elementen aus Büchern oder Gedichten, die sie in der Bibliothek findet. „Sehr geholfen hat der Kurs Kreatives Schreiben im Katholischen Stadthaus. Seit 2001 sind wir da in der selben Gruppe zusammen, das macht richtig Spaß.“
Richtig viel Spaß bereitet es ihr auch, bei der „Lesebühne“ des Theater Oberhausen ihre Geschichten zum Besten zu geben. „Da vorne zu sitzen ist schon etwas besonderes. Im grellen Licht sieht man das Drumherum gar nicht, man ist mit seiner Geschichte ganz allein“, so Bollinger.
„Ich schreibe immer alles so, dass es auch veröffentlicht werden kann“, ergänzt sie. Ganz so einfach läuft der Schreibprozess aber nicht immer ab. Es gibt nämlich auch so Tage, da will ihr einfach nichts gelingen. Manchmal bleibt ein Blatt Papier auch nach Stunden noch leer. „Dann gibt es ebenso Fälle, wo ich schon fertige Geschichten in den Papierkorb werfe und sie komplett überarbeite. Man braucht einfach eine hohe Frustrationstoleranz.“
Ihre Geschichten lässt sie auf zwei verschiedene Arten enden. „Ich liebe es zum einen, zum Schluss den moralischen Zeigefinger zu heben und den Lesern so etwas mitzugeben. Aber oft genug mache ich es auch anders und lasse das Ende offen.“
Eine Leseprobe: Vom Hai verschluckt
Oma wischte immer schnell ihre vom Kartoffelschälen erdigen Finger an der blau-rot-karierten Schürze ab und steckte rasch ihr Haar zu einem festen Knoten zusammen, wenn Opa die Axt in den Holzblock hieb, seine Pfeife an der Stalltür ausklopfte und zwischen den nach Gras und Sonne duftenden Bettbezügen über den Rasen zu ihr lief.
Ich saß vor der Waschküche in der Zinkwanne, in der ich schon als Säugling geplanscht hatte, und bat erneut: „Opa, sag nochmal: Was haben dir die Kameraden zugerufen?“ Und Opa lief an der mit Efeu umrankten Steinmauer entlang, an der Nelken blühten und Gänseblümchen wuchsen, hin zu Oma, die vor einem Stuhl stand, einen Topf mit Erbsen neben sich auf einer drei Stufen, die ins Haus führten.
Ich sehe Opa noch heute laufen, wenn ich aus dem Fenster schaue. Hier, genau hier unten war es. Hier blieb Opa stehen, zwinkerte mir zu, nahm Omas Kopf in seine schwieligen Hände und sagte: „Als mich damals im Rhein ein Hai verschluckte und mich hier in Oberhausen wieder ausspuckte, weißt du, was mir da eines Tages meine Kameraden zugerufen haben, Anna? Jupp, komma her, hier ist en lecker Dierken für dich!“
Das war vor Jahren. Und wenn ich heute das Fenster öffne, dann blühen wieder die Apfelbäume von einst und dort …
Dort unten beugt sich mein Vater über vier junge Katzen, die sich um eine Wurstpelle balgen. Und dort schaut durch den Maschendraht meine Mutter hinein zu den Hühnern und Kaninchen, ehe sie gefaltetes Zeitungspapier auf einen Haken neben dem Plumpsklo spießt. Opa hebt mich aus der Zinkwanne, setzt mich Oma auf den Schoß, und während es vom Bahnhof her pfeift, sagt Opa: „Vielleicht wird irgendwann irgendwo wieder einmal wer von einem Hai verschluckt und hier in Oberhausen ausgespuckt. Und weißt du, was ihm dann seine Kameraden zurufen?“
Veröffentlicht in: Gudrun Nobisrath (Hrsg.): Mehr als Romantik – Das neue Ruhrgebiet, 1. Auflage 1999, Klartext- Verlag