Ein Spion der Stasi benutzte die Identität von Ex-Bundestagsmitglied und SPD-Chef in Oberhausen Dieter Schanz.

Dieter Schanz, Lothringer Straße 11, 42 Oberhausen – so steht es auf dem vergilbten Ausweis. Doch das Foto daneben zeigt nicht Dieter Schanz, den früheren Oberhausener SPD-Chef und Bundestagsabgeordneten. Es zeigt einen inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi – „IM Manfred Siakou“ – der im Auftrag der DDR-Führung und unter falscher Identität im Ausland spionierte.

Pass an der Grenze kopiert

Dass er bei der Stasi gewissermaßen einen Doppelgänger hatte, erfuhr Schanz (74) Ende 2010. Anlässlich der Weihnachtsfeier der SPD war der Ruheständler, der in der Nähe von Berlin lebt, in Oberhausen. Sein Sohn überreichte ihm einen großen Packen mit Post der vergangenen Monate – darunter ein Schreiben der Stasi-Behörde mit jener überraschenden Erkenntnis, die man wohl im Zuge der Auswertung der Rosenholz-Dateien gewonnen hatte.

„Mir ist es heiß und kalt den Rücken runter gelaufen“, sagt Schanz. „Was habe ich da all die Jahre für einen Risikofaktor mit mir herumgetragen!“ Nicht auszudenken, so Schanz, es wäre der Eindruck entstanden, er selbst sei in Diensten des Regimes gewesen. „Schanz war Stasi-Agent“, diese Schlagzeile hätte dem Politiker den Kopf gekostet. Dass er Opfer und nicht Täter war, ist das Ergebnis von Recherchen sowohl der aufarbeitenden Behörden als auch von Journalisten. Nun war Schanz’ Fall Thema im ARD-Politmagazin Kontraste.

Ein Einzelfall ist er demnach nicht. Zigfach seien Ausweise von BRD-Bürgern beim Passieren der deutsch-deutschen Grenze kopiert und später für Spionagezwecke benutzt worden. Auch Schanz reiste regelmäßig in die DDR, die er als junger Mann verlassen hatte, und besuchte dort seinen Bruder. Dass man sich ausgerechnet der Identität eines Parlamentariers bemächtigte, dürfte einmalig gewesen sein. In der Rückschau scheint unglaublich, dass das gewagte Unternehmen funktionierte, und zwar über Jahre.

„Meine Vita eingeatmet“

„Seit Sommer 1984 hatte ich einen Doppelgänger“, weiß Schanz inzwischen, und der agierte offenbar höchst überzeugend. „Er hat meine Vita eingeatmet.“ Das letzte Mal trat der falsche Dieter Schanz im Oktober 1989 in Erscheinung, kurz vor dem Mauerfall. „Was er dazwischen gemacht hat, kann er nur selbst erzählen.“ Das allerdings verweigert der Mann in dem ARD-Beitrag. „Er ist wohl Überzeugungstäter“, sagt Schanz.

So viel allerdings weiß man: Der Agent, promoviert und technisch-naturwissenschaftlich versiert, betrieb Wirtschaftsspionage. Nach Italien, in die Schweiz und die BRD soll er gereist sein, sich Zugang zu Betrieben und Fachmessen verschafft haben – in Schanz’ Namen. „Da kann man zornig werden“, sagt der echte Dieter Schanz. Ob es Zufall war, dass ausgerechnet er zum Werkzeug wurde?

Groll hält sich in Grenzen

Die Stasi bemächtigt sich der Identität eines Bundestagsabgeordneten, um damit einen Spitzel auszustatten – natürlich treibt Dieter Schanz die Frage um, warum es gerade ihn traf. „Ob derjenige, der den Auftrag dazu erteilt hat, mich gekannt hat, ist Spekulation“, sagt der Sozialdemokrat, der die DDR als 18-Jähriger verließ – „aus gutem Grund“. Dass er dann im Westen auch noch politische Karriere machte, bemerkt er, dürfte manchem missfallen haben.

Trotz allem hält sich Schanz’ Groll in Grenzen. „Im Grunde ist das für mich abgeschlossen.“ Aufreiben an weiteren Erkundungen will er sich nicht. Manch interessantes Detail hat er im Laufe der Zeit erfahren. So war dem gefälschten Pass noch ein Umzugsvermerk nach Mainz hinzugefügt worden, damit bloß keine Post an der Lothringer Straße in Oberhausen landete – denn dort wohnte ja der echte Dieter Schanz. „Den Umzugsvermerk hat ein früherer Kollege der Stadtverwaltung unterschrieben.“ Auch diese Unterschrift war aber offenbar gefälscht.

Ob „IM Siakou“ jemals selbst in Oberhausen war, vermag niemand zu sagen. „Ich denke nicht“, sagt Schanz. „Er war zwischen den Welten unterwegs.“

Info:

Als der junge Sozialarbeiter Dieter Schanz 1965 nach Oberhausen kam, hatte er bereits eine bewegte Geschichte hinter sich: 1937 in Danzig geboren, floh er 1945 mit seiner Familie nach Wandlitz in Brandenburg. Dort ging Schanz zur Schule, machte eine Bäckerlehre. 1956, im Alter von 18 Jahren, verließ er die DDR und kam über mehrere Flüchtlingslager ins Ruhrgebiet. In Bochum studierte er, bevor er bei der Stadt Oberhausen die Stelle als Sozialarbeiter antrat. Später wurde er Leiter des Jugendamts. Zwanzig Jahre lang war er zudem Vorsitzender der hiesigen SPD, von 1983 bis 1998 saß er als Oberhausener Abgeordneter im Bundestag. Heute lebt Schanz wieder in Wandlitz. Ironie der Geschichte: Wandlitz war auch Wohnsitz der Mitglieder des SED-Politbüros, dort residierten Honecker und die seinen.