Das beste Zweithaar wirkt natürlich und echt und bleibt, wenn's gut gemacht ist, unerkannt: ein Besuch in der Kunstwerkstätte für Zweithaar, Toupets, Perücken und Haarteile an der Stöckmannstraße.
„Es ist wahrscheinlich, dass Ihnen die Haare ausfallen werden”: Diese Warnung eines Arztes ist für viele Patientinnen fast ebenso schwer zu ertragen, wie die Diagnose Krebs. Die Rede ist von einer schrecklichen Nebenwirkung der bevorstehenden Chemo-Therapie. Nicole Ostermeier-Eckert, Inhaberin der Kunstwerkstätte für Zweithaar, Toupets, Perücken und Haarteile an der Stöckmannstraße in der Alten Mitte und ihre Mitarbeiterinnen verstehen dieses Leid besser als jeder andere, täglich haben sie es mit verzweifelten Kunden zu tun.
„Es gibt mehr Leute, die eine Perücke oder ein Haarteil tragen, als man denkt”, sagt Maria Kottkamp, gelernte Friseurin und seit 20 ihren in der Kunstwerkstatt beschäftigt. Gerade ist sie dabei, eine Langhaarperücke aus Kunsthaar in Form zu bringen. „Sie wurde gereinigt, jetzt muss der Filz raus”, erklärt sie, während sie das Haar auf dem Arbeitskopf sorgfältig kämmt, um die Spitzen anschließend mit feuchter Wärme und heißem Dampf in Form zu bringen. „Synthetikfasern reiben sich mit der Zeit auf.” Wenn sie mit dieser Arbeit fertig ist, hat sie die Frisur der Kundin „erst mal wieder gerettet.”
Gebracht und möglichst schnell gemacht, ist das Motto der Zweithaar-Pflegekunst, denn mit dem Haarersatz ist es so wie mit den dritten Zähnen: Niemand soll sehen, dass man ihn trägt und deshalb nehmen sich Zweithaar-Träger frei im Büro und zeigen sich niemandem, wenn die Perücke „beim Friseur” ist. Manch einer wartet, bis die Frisur wieder aufgefrischt ist – diskret im Einzelzimmer.
„Es ist gut, dass die Kunden schon zu uns kommen, wenn noch Haare da sind”, sagt die Chefin. „Ziel ist eine Frisur zu erstellen, die bei der Trägerin möglichst keine Veränderung bewirkt.” Deshalb beinhalte die Beratung nicht immer gleich eine Anprobe. „Wenn ich weiß, dass wir nicht das Passende da haben, nehme ich Maß und sage: Ich mache Ihnen etwas fertig.” Beim zweiten Termin ist dann eine Frisur vorbereitet, die aussieht, als wäre sie aus dem eigenen Haar. „Wenn die Kundin dann lächelnd rausgeht”, haben Nicole Ostermeier-Eckert und ihre Haarkunst gewonnen. „Die Frau schaut in den Spiegel und sagt: Das bin ich. Auch ich kann übrigens nicht immer erkennen, ob jemand Zweithaar trägt oder nicht”, erklärt sie. „Gott sei Dank haben wir diesen Fortschritt.” Denn es hat sich in den letzten 20 Jahren der Perücken- und Haarteilkunst viel getan, bessere Verarbeitung, bessere Qualität. „Es gibt Kunstfasern, die man sogar föhnen kann.”
So wie es fest sitzenden Zahnersatz gibt, gibt es auch die Perücke, die der Träger nicht einmal beim Schwimmen absetzen muss, geschweige denn beim Schlafen. „Dem 13-jährigen Jungen kann ich versprechen, dass jemand am Haar ziehen kann, ohne dass etwas passiert”, so Nicole Ostermann-Eckert.
Ja, auch Kinder gehören zur Kundschaft. Für ihr Zweithaar zahlt die Krankenkasse ebenso wie für das von Frauen. „Für Männer hingegen nicht, darüber gibt es ein Gerichtsurteil, und das finde ich eine Frechheit!” Wo bitteschön bleibe hier die Gleichberechtigung? Man denke an den kreisrunden Haarausfall, der den Betroffenen nicht nur das Haupthaar, sondern die gesamte Körperbehaarung, auch Augenbrauen und Wimpern, raube! „Doch immerhin: Ausnahmen gibt's.”
Natürlich hat die Zweithaar-Werkstatt nicht nur mit Krankheit zu tun. Zwar gehören die Jahre, als die Hochfrisuren Mode waren und „fast jede Frau mit Haarteilen ausging”, der Vergangenheit an, jedoch gibt's durchaus Damen, die aus praktischen Gründen zur Perücke greifen. „Ich habe eine Kundin, die viel Sport macht und im Urlaub nicht so viel Zeit für die Frisur verwenden will.”
Wie steht's mit Aufträgen vom Theater? „Die suchen eher mal etwas vom Wühltisch, das sie umarbeiten können.”
Und wenn die Haar-Künstlerinnen einen Wunsch frei hätten? „Würden die Echthaarpreise nicht ins Unendliche steigen. Es gibt kaum noch naturbelassenes langes Haar und durch die Haaverlängerungen wird zu viel Haar weggeworfen”, so Nicole Ostermeier-Eckert. Ihre Kollegin ergänzt: „Wir hingegen arbeiten es wieder auf.”