Oberhausen. . Leopoldine Bruckmann versteht die Welt nicht mehr. Sie ist 80 Prozent schwerbehindert, hat ein bis zum Knie amputiertes Bein, ein verkalktes Schultergelenk, Rückenprobleme und Diabetes. Doch für die Pflegestufe 1 ist sie damit noch immer zu fit, bescheinigte ihr der Medizinische Dienst der Krankenkassen. Dagegen zog die 56-Jährige jetzt vors Duisburger Sozialgericht.

Leopoldine Bruckmann wurde in Österreich geboren, in Oberhausen lebt sie seit 37 Jahren. 17 Jahre hat sie in Schmachtendorf gekellnert, nebenbei ihren Sohn groß gezogen. Ihr Mann verstarb vor sechs Jahren an Krebs. Da die Witwenrente mit 520 Euro schmal ausfiel, ging sie weitere acht Jahre für einen Pflegedienst putzen.

„Doch im Herbst 2005 ging es los“, erinnert sich die Oberhausenerin noch gut. Sie hatte sich an der linken Zehe gestoßen. „Das heilte nicht richtig, aber ich nahm das nicht weiter ernst.“ Erst im Sommer 2006 („meine Geschwister hatten Druck gemacht“) ging sie zum Arzt. Drei Wochen später hatte sie einen Bypass im linken Bein. „Die Adern saßen zu.“

Doch als sie 2007 nach Österreich in den Urlaub fuhr, wurden die Schmerzen immer schlimmer. „Ich hatte einen Verschluss im Bein, kehrte nach Hause zurück und wurde sofort operiert.“ Doch es half nichts. Als im Herbst 2007 ein Zeh zu faulen begann, wurde das linke Bein bis unters Knie amputiert.

Mittlerweile saßen aber auch die Herzkranzgefäße zu. „2011 musste ich zur Herzkatheter-Untersuchung, dabei wurde ein Stent gesetzt.“ Bei dieser Untersuchung lösten sich Ablagerungen, die nun auch das rechte Bein verstopften. Nur ein Gefäß konnte gerettet werden. Leopoldine Bruckmann weiß: „Ist das zu, verliere ich auch dieses Bein.“ Erbliche Veranlagung, aber auch ein viel zu spät erkannter Diabetes hätten die Probleme verursacht. „Durch die Verkalkung habe ich außerdem jetzt Schmerzen in der Schulter und im Rücken.“ Zweimal in der Woche geht sie zur Krankengymnastik.

Eines Tages habe ein Mitarbeiter ihrer Knappschaftsversicherung angerufen und nachgefragt, wieso sie eigentlich keine Pflegestufe habe. „Zweimal wurde ich vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen untersucht.“ Danach erhielt sie sofort ein Krankenbett, einen Wannenlift, eine Halterung an der Toilette, einen Rollator sowie einen Rollstuhl. Die Pflegestufe 1 allerdings lehnte der Medizinische Dienst ab.

Leopoldine Bruckmann ging zum Rechtsanwalt. Ihr Oberhausener Verteidiger Uwe Vespermann beantragte für seine Mandantin Prozesskostenhilfe - die auch bewilligt wurde. Das Sozialgericht in Duisburg bestellte einen neutralen Gutachter, der zu folgendem Ergebnis kam: „Zusammenfassend konnte ein Hilfebedarf von 26 Minuten im Bereich der Grundpflege sowie von 45 Minuten täglich im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung festgehalten werden.“ Und: „Die zeitlichen Kriterien der Pflegestufe 1 werden aktuell nicht erreicht.“ (Der gerichtlich beauftragte Gutachter ist übrigens ein Arzt für Nervenheilkunde).

Als Leopoldine Bruckmann bei einer der nächsten Untersuchungen im Krankenhaus mit ihrem behandelnden Gefäßchirurgen darüber sprach, war dieser fassungslos. „Er bestätigte mir, dass er den Zeitaufwand wesentlich höher einschätzen würde - und bot mir sofort ein Zweitgutachten an.“

Doch dafür soll sie laut Gericht mit 500 Euro in Vorkasse gehen, denn ein Gutachten habe das Gericht ja bereits bezahlt. Nur: „Bei meiner Rente kann ich mir das nicht leisten.“

Für Rechtsanwalt Vespermann ist dieses Vorgehen schlicht „eine Sauerei, denn sie hat nix - deshalb haben wir doch die Prozesskostenhilfe beantragt“. Hilft aber nichts. Kann Leopoldine Bruckmann das Geld nicht aufbringen, bleibt es wohl dabei: Für die erste Pflegestufe ist sie zu fit.

Sechs Widersprüche eingelegt

Sechs Widersprüche gegen die Ablehnung der Pflegestufe 1 legte der Vdk Rhein-Ruhr, der auch für Essen und Oberhausen zuständig ist, in 2010 in Oberhausen ein. Sechs Mal führte dieser Widerspruch zu einer Klage vor dem Sozialgericht, die teils noch laufen.

„Unsere Erfolgsquote liegt zwischen 60 und 70 Prozent“, sagt VdK-Rechtsberater Carsten Goertz. Er weiß: „Der Einstieg in die Pflegestufe 1 wird gerne erschwert.“ Und er rät: „Es lohnt sich, sich zu wehren.“ Dabei ist es hilfreich, wenn pflegende Angehörige über einen möglichst langen Zeitraum, mindestens aber über 14 Tage, ein Pflegetagebuch führen und die Patienten aktuelle Atteste über ihre pflegerelevanten Erkrankungen vorlegen können.

„Denn die meisten Begutachtungen beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen werden heute gar nicht mehr von Ärzten durchgeführt, sondern von dafür extra eingestellten Pflegefachkräften“, erläutert Goertz. Die Diagnose trete deshalb häufig in den Hintergrund. „Es geht nur noch darum, wofür wie viele Minuten benötigt werden.“ Lediglich beim Thema Demenz habe es einige Verbesserungen gegeben.

Dass wie im Falle Leopoldine Bruckmann vom Gericht ein neurologisch-psychiatrischer Gutachter beauftragt wird, „ist zumindest fragwürdig“. Die einzige Möglichkeit dagegen vorzugehen, sei in der Tat ein Gegengutachten. Goertz rät: „Dabei sollte allerdings darauf geachtet werden, dass es sich um einen bei Gericht zugelassenen Sozialmediziner handelt und nicht etwa um einen behandelnden Arzt.“ Denn sonst könne es wegen Befangenheit schnell Probleme geben.

Doch auch wer die Pflegestufe 1 erhalten hat, sollte aufpassen, rät der Fachmann. „Es gibt alle zwei Jahre Nachuntersuchungen, bei denen die kranken Menschen gerne wieder herabgestuft werden.“ Auch hier hilft nur: Tagebuch und Atteste bereit halten.

Pflegeaufwand von 90 Minuten

Nach Angaben der Knappschaft erhält die Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe I (erhebliche Pflegebedürftigkeit), wer „bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf sowie mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt“. Wobei der durchschnittliche tägliche Pflegeaufwand mit mindestens 90 Minuten anzusetzen sei.

Der grundpflegerische Hilfebedarf habe dabei gegenüber der hauswirtschaftlichen Versorgung im Vordergrund zu stehen. Der pflegerische Aufwand müsse mehr als 45 Minuten betragen. Die Pflegestufe 1 ist übrigens Voraussetzung für die Aufnahme in einer Pflegeeinrichtung. Das Pflegegeld für die häusliche Pflege beträgt monatlich 225 Euro für selbst organisierte Pflegepersonen wie z.B. Angehörige.

Wird die Pflegeleistung eines ambulanten Hilfsdienstes in Anspruch genommen, erfolgt keine Auszahlung, sondern dieser rechnet direkt mit der Pflegekasse ab. Dabei werden zurzeit maximal 440 Euro monatlich anerkannt. Eine Kombination aus beiden Arten ist möglich, wobei prozentual verbrauchte Anteile der ambulanten Hilfsleistung auf die Pflegegeldzahlung umgerechnet werden.

Bei vollstationärer Pflege in einem Heim werden bei Pflegestufe 1 an dieses maximal 1023 Euro monatlich gezahlt (Stand 2010). Dieser Betrag ist aber nur für den Pflegeaufwand und die soziale Betreuung bestimmt, Kosten für Unterbringung und Verpflegung müssen selbst getragen werden.