Als „naturnahe Oase der Erholung“ empfiehlt sich Bad Karlshafen, die „weiße Barockstadt im Grünen“. Rund 3800 Einwohner hat die nordöstlichste Stadt Hessens, irgendwo zwischen Göttingen und Kassel gelegen. Das klingt nach absolutem Ruhrgebiets-Kontrastprogramm – und doch schickte sich ein Oberhausener an, im Chefbüro des pittoresken Rathauses gleich an der Weser Platz zu nehmen.
Gereicht hat es am Ende nicht: 21,7 Prozent der Stimmen bekam Rainer Rettinger bei der Wahl vergangenen Sonntag. „Ein bisschen knapper hätte es schon sein dürfen“, sagt der selbstständige Marketing-Fachmann (53), der sich nach seinem Abenteuer Bürgermeister-Kandidatur nun zurück in den Alltag arbeitet. Ein Nicht-Politiker aus dem Revier will Bürgermeister in einem 200 Kilometer entfernten Kurort werden – wie kommt denn sowas?
Parteiloser SPD-Kandidat
„Bad Karlshafen ist mir seit Jahren vertraut“, sagt Rettinger. Seine Frau stammt aus einer alteingesessenen Familie, besitzt dort ein Haus, in dem die Rettingers manches Wochenende verbringen. „Die Stadt liegt mir am Herzen. Ihren schleichenden Niedergang zu sehen, tut weh.“ Rettinger findet, dass Bad Karlshafen sein touristisches Potenzial nicht nutzt.
Diese Ansicht tat er vor einem Jahr auch in einem Vortrag vor Ort kund – woraufhin die Bad Karlshafener SPD ihm antrug, auf ihrem Ticket als parteiloser Bürgermeister zu kandidieren. Rettinger ging in Klausur, verabreichte sich im Sommer nochmal eine dreiwöchige Dosis Bad Karlshafen und entschied: Ich mach’s.
Darauf begann für den pendelnden Bewerber eine sechs Monate währende Ochsentour. Rettinger machte sogar Wahlkampf an der Haustür, „um zu zeigen: Mich gibt es wirklich.“ Die Reaktionen seien eher ernüchternd gewesen, so wie überhaupt die Erfahrungen, die Rettinger mitnimmt. Darunter – der eine oder andere wird weniger überrascht sein – auch jene: „Politik hat manchmal sehr wenig mit Vernunft und Intelligenz zu tun.“
Es mag darin ein wenig die Enttäuschung des Unterlegenen mitschwingen. Andererseits: Kann es sein, dass Rettinger fast ein bisschen froh ist, nun im Ruhrgebiet bleiben zu müssen? „Wenn ich ehrlich bin: Ja.“ Die Klischees von kleinstädtischer Enge und nicht gerade überbordender Begeisterung für Neues – sie stimmen eben doch, hat Rettinger festgestellt. „In diesem halben Jahr ist mir vieles begegnet, angefangen von Freundlichkeit über Intoleranz bis zu Beschimpfungen.“
Rathaus vis-à-vis
Ob er in den nächsten sechs Jahren als Bürgermeister unter ständiger Beobachtung – „Ich falle aus unserer Haustür gleich ins Rathaus“ – also glücklich geworden wäre? Die Frage stellt sich nicht, denn Rettinger, der mit seinen „guten Kontakten“ und dem Wissen um EU-Gelder warb („Türen in Brüssel stehen offen!“), konnte dem Amtsträger seinen Rang nicht ablaufen. Der war ebenfalls parteilos, aber mit Hilfe von CDU und freier Wählergemeinschaft ins Rennen gegangen.
Vom Bemühen um politische Ämter ist Rettinger nach Abschluss dieses Kapitels weitgehend kuriert. Ein Ratsmandat in seiner Heimatstadt Oberhausen, oder in Essen, wo er heute lebt und arbeitet? „Auf keinen Fall. Ich werde auch nie ein Parteibuch haben.“ Einmischen will Rettinger sich aber weiterhin – auch in Bad Karlshafen. Man wird sich warm anziehen müssen im Kurort.