Zwei familiäre Tragödien, 100 Jahre voneinander entfernt spielen sie sich ab, und doch sind sie sich so nah: Mit „Waisen“ des jungen Autors Dennis Kelly und Anton Tschechows „Drei Schwestern“, an zwei aufeinander folgenden Premierenabenden im Großen Haus des Theaters serviert, entführt Intendant und Regisseur Peter Carp die Zuschauer in zwei völlig unterschiedliche Welten. Sie eint der unerfüllte Wunsch der Akteure, glücklich zu leben.

Entstanden sind zwei großartige Produktionen aus einem Guss. Jede von ihnen kann für sich allein stehen, doch gemeinsam sind sie ein seltenes Gesamtprojekt Glückwunsch, Herr Carp. Ihr Experiment ist gelungen!

Licht aus, Spot an. Die „Waisen“ spielen im Hier und Jetzt. Es sind Ehefrau Helen (Manja Kuhl) und ihr Bruder Liam (Martin Hohner), die diesem Stück seinen Namen geben. Der frühe Tod der Eltern prägt ihre Beziehung und ihr Leben. Helen ist durch ihre Ehe mit Danny (Henry Meyer) zwar der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen. Auch hat sie mit dem Milieu, in dem ihr Bruder lebt, nichts zu tun. Doch sie merkt nicht, wie sehr ihr Gatte den jungen, ungebildeten Mann verabscheut. Ihr krankhaftes Verdrängen der Tatsache, dass kriminelle Energie und Dummheit Liams Leben prägen, ist der Stachel, der ihre Ehe zerstört. Er gehört zur Familie, da gibt’s kein Entrinnen. Und Familie, sei sie auch noch so kaputt, ist die einzige Waffe gegen das böse Draußen, die sich verändernde Gegend in der sie leben. Gezeigt wird, wie weit der Mensch gehen kann, um dieses Konstrukt zu retten. Die Geschichte kommt wie ein Thriller daher, lebt von dem großartigen Spiel der Akteure, wobei Martin Hohner als Liam eine Höchstleistung abliefert. Bravo-Rufe der Zuschauer belohnen ihn.

Waisen sind auch Olga (Anja Schweitzer), Mascha (Manja Kuhl) und Irina (Angela Falkenhan), die in „Drei Schwestern“ die Hauptrollen spielen. Es ist unglaublich, aber es funktioniert: Das schicke Wohnzimmer von Helen und Danny ist nun zum Salon eines russischen Herrenhauses mutiert.

Licht aus, Spot an: Die Schwestern eröffnen das Drama mit einem wilden Tanz. „Was war das früher für eine super geile Zeit.“ Die Geschichte beginnt an Irinas Namenstag. Die Hausfreunde, Relikte aus vergangener Zeit, sind zugegen. Vier Jahre begleitet der Zuschauer in Tschechows Werk die Töchter des verstorbenen Brigade-Generals, der Moskau verließ und in ein Provinznest zog, durch ihr unerfülltes Leben. Martin Hohner ist jetzt als Andrej zusehen, als Bruder der Schwestern. Auf ihm lastet die Hoffnung der Drei: zurück nach Moskau. Doch er heiratet das Provinz-Mädchen Natalia (Nora Buzalka), die fortan im Hause das Regiment übernimmt, und verspielt das Vermögen der Familie.

Auch in dieser Geschichte geht es um die Frage nach dem Lebenssinn. Die wird, wir haben es in „Waisen“ gesehen, 100 Jahre später noch genauso aktuell sein, nur dass sie dann andere Menschen stellen werden.

Die Inszenierung beeindruckt durch die gelungen gezeichneten Charaktere aller elf Beteiligten, die Dialoge und die enorme Wandlungsfähigkeit des Bühnenbilds.

Zwei Produktionen, zur gleichen Zeit erarbeitet vom gleichen Team, gespielt in einem Bühnenbild. So etwas hat es am Theater Oberhausen noch nicht gegeben und wird auch wohl so schnell nicht wiederholt werden. Umso dringender der Rat: Das sollte man sich nicht entgehen lassen!