Die Grünen sind derzeit in aller Munde. WAZ-Redakteur Thomas Schmitt sprach mit der örtlichen Bundestagsabgeordneten Bärbel Höhn über den Höhenflug ihrer Partei, ihre Aufgaben in Berlin und über Energiepolitik in NRW.
Der Spiegel schreibt vom grünen Wunder, von der neuen deutschen Volkspartei. Frau Höhn, können Sie vor Kraft noch laufen?
Bärbel Höhn: Wir freuen uns natürlich über Umfragewerte um die 20 Prozent, wir bleiben aber auf dem Teppich, auch wenn der derzeit fliegt.
Erklären Sie unseren Lesern doch bitte das Wunder.
Wir haben immer Konzepte für Problemlösungen in der Zukunft gesucht, die nicht Mainstream waren. Jetzt ist diese Zukunft erreicht. 1990 sind wir aus dem Bundestag geflogen, weil wir uns mit Klimaschutz beschäftigt haben. Es hieß damals, ganz Deutschland redet über die Einheit, nur die Grünen reden über das Wetter. Jetzt ist das Thema mitten in der Gesellschaft angekommen, inklusive unserer Forderung, mehr in Erneuerbare Energien zu investieren und aus der Kohle auszusteigen. Im Nachhinein profitieren wir, weil die Leute sagen: Guck mal, die haben langfristig gedacht. Hinzu kommt: Unser Wählerspektrum wird breiter. Bei der Jugend verlieren wir nicht, bei den Älteren gewinnen wir. Diejenigen, die die Grünen gegründet haben, kommen an die 60 heran.
Schmeichelt ihnen das Wort Volkspartei? Gibt es so etwas wie eine späte Genugtuung?
Ich möchte gar nicht, dass die Grünen eine Volkspartei werden. Wir müssen im Sinne des Gemeinwohls handeln und dafür auch bereit sein, unseren eigenen Wählern auf die Füße zu treten. Das ist das Gegenteil von einer Volkspartei, diese versucht viele zusammenzuführen und möglichst nichts zu ändern. Wir wissen aber: Wenn man nichts ändert, bleibt nichts, wie es ist. Es wird schlechter.
Nennen Sie ein Beispiel.
Der demografische Wandel ist für das Ruhrgebiet, für Oberhausen enorm wichtig. Wir müssen uns fragen: Was bedeutet es für unsere Sozialsysteme, wenn wir immer weniger und älter werden? Wie sichern wir sozialen Wohlstand in einer schrumpfenden Gesellschaft? Wie verhindern wir, dass Menschen, die sozial benachteiligt sind, weiter abrutschen?
Sie schlagen eine Bürgerversicherung vor.
Ja, die Krankenkassenbeiträge laufen doch davon. Wir wollen eine Versicherung, in die alle einzahlen, auch Selbstständige und Beamte. Trotzdem wählen uns diese Menschen, weil sie das Gemeinwesen im Blick haben und die Frage des Gemeinwohls höher achten als ihren individuellen Vorteil. Wir sind sozusagen eine Antiklientelpartei.
Und eine Partei, die sich immer für die Beteiligung der Bürger an wichtigen Entscheidungen eingesetzt hat. Zurzeit werden Politiker kritisiert, die nicht selbst entscheiden, sondern lieber das Volk befragen wollen. Das bedeute Stillstand, heißt es.
Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen Großprojekte gemeinsam mit den Betroffenen umsetzen und zu ganz anderen Mitbestimmungsverfahren kommen. Stuttgart 21 war vor 15 Jahren ein ganz anderes Projekt als heute. Es ging um vier Milliarden Mark, heute sind es 12 Milliarden Euro. In einer schrumpfenden Gesellschaft muss man heute solche Projekte mehr erklären als früher. Und ihren Sinn. Ich finde es falsch, dass man Schulden machen darf, wenn man in Beton investiert, aber nicht, wenn man in die Köpfe unserer Kinder investiert. Da ist der Spielraum auf allen Ebenen fast null. Wir müssen Bildung finanzieren und nicht noch immer mehr Straßen.
Renate Künast will Berlin zu einer Tempo-30-Zone machen, Wäre das auch etwas für Oberhausen?
In Berlin haben wir eine völlig andere Situation. Hier gibt es viele Autobahnen, die Städte verbinden und kreuzen, es ginge also schon deswegen nicht. Tempo 30 in Wohngebieten einzuführen, das wäre aber richtig. Wir müssen die Städte attraktiver machen, zu viele Leute ziehen in die Randgebiete, in denen es grüner und leiser ist.
Sie werden als Nachfolgerin von Frau Künast gehandelt, sollte diese Bürgermeisterin von Berlin werden?
Das geht gar nicht. Wir haben einen Proporz, dass die Fraktion von einem Linken und einem Realo geführt wird. Ich bin eine Linke und Künast gehört zu den Realos.
Wie bewerten Sie die Arbeit der Grünen vor Ort? Gehen sie in der rot-grünen Koalition nicht völlig unter?
Wenn ein Zusammenschluss reibungslos arbeitet, ist das kein Nachteil. Wir können in der Koalition keine Oppositionsarbeit machen, wir müssen Anträge stellen, die mit dem Partner abgestimmt sind. Was anderes sollten die Grünen tun? Weiter Opposition betreiben? Dann würden alle sagen, die sind nicht reif und haben nicht verstanden, was Koalition heißt.
Die Grünen werden 2011 in Oberhausen vermutlich den Kämmerer stellen, Sie haben Mathematik studiert. Gibt’s ein Comeback vor Ort?
Ich war in meiner Zeit im Rat sogar für die Finanzen zuständig. Ein Comeback wird es aber definitiv nicht geben. Ich sehe meinen politischen Schwerpunkt in Berlin.
Mit dem Ziel, die Grünen zurück in die Regierung zu führen?
Ja, wir wollen die Regierung 2013 ablösen. Wir wollen wieder raus aus der Atomkraft. Das ist die urgrüne Frage. Angela Merkel hat die Laufzeiten ohne Not um 12 Jahre verlängert. Das hat enorme Auswirkungen, auch auf NRW. Der Umbau der Stromproduktion hier wird noch schneller gehen, denn die Steinkohlekraftwerke werden vom Markt gedrängt. Ich koordiniere das Thema in der Fraktion und bereite auch zusammen mit der SPD die angekündigte Normenkontrollklage vor. Diese Arbeit nimmt mich voll und ganz in Anspruch. Wir müssen vorbereitet sein, damit wir nicht genau so in eine Regierung stolpern wie es die FDP getan hat.
Was bedeutet die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke eigentlich für unsere Region?
Wir müssen sehr schnell auf Erneuerbare Energien setzen. Die schwarz-gelbe Regierung hat hier fünf Jahre fahrlässig blockiert. NRW ist das führende Zentrum für Energieerzeugung in Europa. Alle sagen: In 20 bis 40 Jahren wollen wir Strom zu 100 Prozent aus Erneuerbaren Energien erzeugen. Die Laufzeitverlängerung ist auf dem Weg dahin keine Brücke, sondern eine Mauer. In NRW beträgt der Anteil der Erneuerbaren heute nur sechs Prozent, bundesweit dagegen 18 Prozent.
Wenn wir nichts tun, verlieren wir diese Kernkompetenz an andere Bundesländer. Daran hängen chemische Industrie, Stahlindustrie, Aluindustrie. Wenn wir nicht umschwenken, bekommen wir ein massives Problem mit dem Verlust von Arbeitsplätzen.
Befürworten Sie die Rekommunalisierung der Energieversorgung?
Wir müssen die Stadtwerke stärken, ihnen positive Perspektiven geben. Die AKW-Laufzeitverlängerung mindert die Renditen ihrer Investitionen in Kraftwärmekopplung, Gaskraftwerke und Erneuerbare Energien, es fließen weniger Gewinne an die Städte. Wenn Sie so wollen, ist die Oberhausener Bevölkerung also direkt negativ von den AKW-Beschlüssen betroffen.
Was schlagen Sie vor?
Wir benötigen mehr Wettbewerb, um gegen die unfairen zu hohen Preise der großen Vier – Eon RWE, ENBW und Vattenfall – vorzugehen. Ein wichtiger Punkt wäre die Kraftwärmekopplung. Wir könnten damit im Ruhrgebiet unglaublich viel machen. Wir haben hier einen Kranz von großen Kohlekraftwerken, die nur Strom aber keine Wärme erzeugen, und ins Ruhrgebiet hinein wird das Gas für die Heizungen von Putin geleitet. Das ist ziemlich verrückt. Das Ruhrgebiet würde sich total für Kraftwärmekopplung eignen, viele kleine Anlagen, die Strom und Wärme erzeugen. Das hätte einen enormen Arbeitsplatzeffekt. Im jetzigen Konzept der Bundesregierung ist diese Option komplett verschüttet worden.
Ist der Millionen-Deal der Stadtwerke, der Kauf der Steag, sinnvoll?
Grundsätzlich ist es richtig, dass die Stadtwerke einen stärkeren Anteil an der Stromerzeugung übernehmen wollen. Ob es sinnvoll ist, das mit der Steag zu tun, muss man genau prüfen. Ich kenne die Bilanz der Steag nicht. Man muss wissen, dass die Steinkohlekraftwerke in die Klemme kommen werden. Man muss sich also fragen, rechnet sich das oder binde ich mir eine Bürde auf, die am Ende die Bürger zahlen müssen
Zur Person:
Die 58-jährige Bärbel Höhn ist das grüne Gesicht Oberhausens. Seit 1978 lebt die Diplom-Mathematikerin im Ruhrgebiet. 1981 engagierte sie sich in der Bürgerinitiative „Stadtelternrat Oberhausener Kindergärten“, später im Frauenforum und in der „Bürgerinitiative gegen Giftmüllverbrennung“. 1985 trat Höhn in die Partei „Die Grünen“ ein.
Ihre politische Karriere begann im Rat (1985-1989). 1990 wurde Höhn in den Landtag gewählt, von 1995 bis 2005 war sie Umweltministerin der rot-grünen Landesregierung. Seit Oktober 2005 ist sie Bundestagsabgeordnete. Als stellv. Fraktionsvorsitzende ist Höhn zuständig für die Bereiche Umwelt, Energie, Verbraucherschutz, Landwirtschaft, Tierschutz, Bauen und Verkehr. Bärbel Höhn ist in Flensburg geboren. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder.