Zur Brüder-Grimm-Schule gehen Kinder aus 35 Ländern. Größtes Problem ist die Kinderarmut
„Eine Welt, eine Schule“, steht in bunten Lettern an der Pinnwand. Die Brüder-Grimm-Schule an der Lothringer Straße könnte eine Grundschule mit Vorbildcharakter sein. Sie ist „Schule ohne Rassismus“, nimmt Teil an Jeki (Jedem Kind ein Instrument), es gibt ein Elterncafé, zusätzliches Lehrpersonal, zudem Sozialarbeiter, die Rotarier, Firmen und Stiftungen, die sie unterstützen. Dennoch: Viele Jungen und Mädchen, die hierhin kommen, werden es nie leicht haben. Über 80 Prozent der Schüler haben ausländische Wurzeln.
Die Kinder kommen aus Moldawien, Bosnien, Syrien, Turkmenistan, Ghana, Marokko. . . Die Liste ist lang, umfasst 35 Nationen, inklusive Deutschland. „Das Miteinander funktioniert trotzdem, denn es gibt keine Nation, die in der Mehrheit ist“, erklärt Rektorin Christel Ostermann. Deshalb reden die meisten Deutsch miteinander.
„Pssst“, sagt Klassenlehrerin Daniela Rusche und legt den Zeigefinger auf den Mund. Die Kinder in der 2a sind mucksmäuschenstill. Die ersten beiden Stunden unterrichtet Rusche mit einer Kollegin Deutsch. Zu zweit können sie die Kinder besser fördern. Eine Schülerin konnte, als sie in die Klasse kam, nur zwei Sätze auf Deutsch sagen. Bis auf zwei Mädchen haben alle einen Migrationshintergrund. „Wir haben sehr bildungsorientierte Eltern, aber viele können ihren Kindern nicht helfen.“ So ist Rusche Lehrerin, Erzieherin, Vorbild und Mama-Ersatz. „Es gibt Kinder, die wollen einfach mal in den Arm genommen werden.“
„1. Stunde: Bildergeschichte. 2. Stunde: Findefix“, schreibt Rusche an die Tafel. „Och nö“, stöhnt Emircan und packt missmutig seine Hefte aus. Mathe gefällt ihm viel besser. Wie gut, dass in der vierten Stunde noch Zehner und Einer gerechnet werden sollen. Aber erstmal muss er Schreiben üben. Fünf Bilder hängen an der Tafel. Ein Junge pflückt Äpfel und plumpst von einer Leiter. Dazu sollen sich die Schüler eine Geschichte ausdenken.
„Unser Problem ist nicht der Migrationshintergrund, sondern die Kinderarmut. Die betrifft auch die Deutschen“, weiß Ostermann. Viele kommen ohne Frühstück zum Unterricht. Gelesen wird in den Familien nicht. Die Namensgeber der Schule, die Gebrüder Grimm, kennen sie aus dem Fernsehen. Familiäre Probleme müssen zunehmend in der Schule aufgefangen werden. Wenn ein Junge kein Heft mehr hat und dessen Mama erst nächste Woche wieder Geld bekommt, zahlen die Lehrer die Materialien manchmal aus der eigenen Tasche.
Ostermann und ihre Kollegen wurden auf solche Aufgaben während der Ausbildung nicht vorbereitet. Ihnen hat keiner erklärt, wie es ist, vor einer Klasse zu stehen, in der die wenigsten Kinder deutsche Wurzeln haben. „Im Studium hatten wir kaum Kontakt zu Schülern“, bestätigt Rusche. Als sie als Referendarin erstmals unterrichtete, war sie geschockt: „Ich wusste nicht, dass Kinder schon solche Wörter kennen.“ In ihrer Klasse wird Wert darauf gelegt, dass die Kinder nett sind und keine Schimpfwörter sagen. Wenn eine Tischgruppe den anderen Klassenkameraden hilft, wird das mit einem Sternchen belohnt. „Man muss loben, was gut gelaufen ist, bevor man Tipps für Verbesserungen geben kann“, weiß sie.
Bei kulturellen Missverständnissen vermitteln Mediatoren, etwa wenn ein Mädchen nicht mit auf Klassenfahrt darf. Immerhin: Sprachlich funktioniert die Verständigung besser. Dank Delfin-Sprachtest im Kindergarten, können die meisten Jungen und Mädchen sich gut auf Deutsch verständigen. Die Kommunikation mit den Eltern ist schwieriger – wenn sie sich denn überhaupt am schulischen Leben beteiligen.
2009 haben zehn Kinder eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen. 13 wurden zur Real-, 19 zur Gesamt- und sechs zur Hauptschule geschickt. Die Brüder-Grimm-Schule hat sich ins Zeug gelegt für sie. Einige werden es dennoch nie leicht haben.
Erklärung gegen Diskriminierung
Die Kinder an der Brüder-Grimm-Schule können das Wort „Diskriminierung“ noch gar nicht buchstabieren, aber wissen, was es heißt. Jeder Schüler hat eine Erklärung unterzeichnet: „Ich setze mich ein, wenn an meiner Schule Menschen mit Worten oder Taten angegriffen werden, weil sie anders sind.“