Theaterprojekt für sozial benachteiligte Stadtteile: Jugendliche spielen Theater in der leeren Liricher Hauptschule

Die Hauptschule Lirich, mitten in den Herbstferien. Der Schulhof ist leergefegt, im ganzen Gebäude hat sich eine fast unheimliche Stille ausgebreitet. Keine spielenden Kinder auf dem Schulhof, kein Stimmengewirr im Treppenhaus.

Wer aber ein bisschen bleibt und sich umsieht, der merkt: Hier ist doch etwas los. In der Aula sind die Vorhänge geschlossen, doch die Bühne ist beleuchtet. Die 15-jährige Birdzan kommt herein, einen Schal aus roten Federn um den Hals. Ihre Schritte hallen im leeren Raum wider. Sie sucht etwas. Nach und nach kommen weitere Jugendliche zur Tür herein. Sie laufen durcheinander, der eine wischt mit einem Mopp den Boden, die andere fragt jeden: „Wer bist du?“ Einige fangen an sich zu streiten. Geschrei.

Wie im Schulalltag? Ein bisschen schon, aber nicht ganz. Die acht Jugendlichen spielen Theater. Jede Szene wird mit einer Videokamera aufgenommen. Am Ende soll ein Film entstehen, über die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu ihrer Schule. Das ist das Ziel des einwöchigen Stadtteilprojekts für sozial schwache Gebiete, von kitev (Kultur im Turm)-Vorstand Stefan Schroer ins Leben gerufen.

Mit ins Boot hat sich der Dramaturg eine Bewegungstherapeutin, eine Fotografin und Filmerin und eine Theaterpädagogin geholt. Eine Woche lang trifft sich die Gruppe jeden Tag in der Schule. Morgens macht Bewegungspädagogin Stefanie Elbers mit den Jugendlichen Wahrnehmungsübungen und studiert Choreografien ein. Dann gibt es Improvisationsübungen mit Theaterpädagogin Anja Brunsbach. „Die Übungen helfen, hierhin zu kommen und den Alltag hinter sich zu lassen“, erklärt sie. Jeder soll selbstsicher auf die Bühne gehen können, ohne peinlich berührt zu sein. Gerade für Hauptschüler sei es wichtig, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. „Denen wird viel zu selten gesagt: Du bist ein toller Mensch.“

Die Wirkung ist verblüffend: Jeder der acht Jugendlichen geht mit einer enormen Präsenz auf die Bühne, schafft es, seine Rolle zu spielen, ohne sich von den anderen ablenken zu lassen. Und vor allem: Alle machen mit, sind motiviert bei der Sache. „Die Kids haben eine unglaubliche Energie“, ist auch Dramaturg Stefan Schroer begeistert.

Gespielt wird aber keineswegs nur in der Aula. Dank Generalschlüssel steht den Jugendlichen die gesamte Schule offen. Zwischen den gemeinsamen Spielszenen hat jeder für sich Zeit – und kann in den eigenen Raum gehen. Ob im Chemieraum, dem Keller oder den Klassenräumen – die Jugendlichen haben sich überall eingerichtet. Zorica (15) hat den Streitschlichterraum ausgewählt. „Hier ist es so schön gemütlich und freundlich.“ Direm (16) hat den Heizungskeller gewählt, dort erst einmal gefegt und sich dann ein gemütliches Eckchen mit Tisch und Schatzkarte eingerichtet. Birdzan (15) schließlich hat eine Bar im Keller gefunden. Viele Räume haben die Jugendlichen noch nie gesehen. Doch es macht ihnen Spaß, die leere Schule zu erobern: „Es schon ein bisschen gruselig“, sagt Zorica. Aber es passt zum Thema: Der Film spielt schließlich 20 Jahre in der Zukunft in der leeren Schule. Nicht ohne Grund: Ende des Schuljahres wird die Hauptschule Lirich wegen zu wenigen Anmeldungen geschlossen. Projektleiter Stefan Schroer kann sich vorstellen, die Schule dann weiter zu nutzen: „Ich habe Lust, hier ein dauerhaftes Liricher Theaterprojekt zu machen.“

Kommentar

Der Hauptschüler hat im Allgemeinen nicht das beste Image. Viele Ausbildungsbetriebe ziehen dann doch den Realschüler vor – oder verlangen direkt das Abitur. Es geht hier nicht darum, Schulformen gegeneinander auszuspielen. Aber eines hat das (übrigens EU-geförderte) Theaterprojekt an der Hauptschule Lirich gezeigt: Wie wichtig es ist, wirklich jedem Schüler Selbstvertrauen zu vermitteln. Wer die Jugendlichen auf der Bühne gesehen hat, konnte nur staunen ob so viel Kreativität und Spielfreude. Natürlich spielt das fachliche Können eine entscheidende Rolle, doch in dem Begriff „Hauptschüler“ steckt viel zu viel Klischee. Eigentlich darf es gar nicht überraschen, dass jeder Jugendliche tolle Fähigkeiten hat. Projekte wie dieses gehören deshalb unbedingt gefördert. Wenn der Projektleiter also ein langfristiges Stadtteilprojekt in Lirich einführen möchte: Her mit den öffentlichen Geldern!