Oberhausen. .

Nächster Halt Balkan: Am Samstag machte der Melez-Zug in Oberhausen Station und ging dann als Balkan-Express auf die Reise. Mit dabei waren De Jongens Driest (Balkan Brass aus Amsterdam) und die Gypsy-Musiker Romano Trajo.

Dieser Zug kommt genau pünktlich: In gold-petrolfarbenem Kleid schlängelt er sich durch die derzeitige Integrationsdebatte, pfeift mal kraftvoll zur Blasmusik aus dem Balkan, mal leise zwischen den Zeilen eines bulgarischen Literaten und dann wieder aus vollem Hals im Chor der Sinti und Roma, die in Linzer Mundart durch ihre Welt führen: Der Melez-Zug hält an diesem Samstagabend mit rund 200 Fahrgästen als Balkan-Express am Gleis 13 des Hauptbahnhofs. 138 Meter ist er lang, in jedem der fünf Waggons steckt eine andere Welt: „Bitte einstiegen!“

Hinein ins letzte Abteil, weil dort jemand zum Konzert anstimmt. Die Tür fällt mit lautem Pfeifton ins Schloss, der Fahrgast dreht sich weg – um sogleich einer eng zusammengestellten Masse ins Gesicht zu schauen: Rund 50 Junge und Alte stehen beieinander unter dem roten Licht des Bühnenwagens. Sofort verschwindet die Kälte der Oktobernacht aus den Gliedern, im Lachen des Gegenübers röten sich die eigenen Wangen, im Takt einer Posaune wippt das Abteil: Über das Stimmengewirr legen sich die Bläser von De Jogens Driest, einem Jazz-Trio mit Weltmusik im Blut. Latein-amerikanische Melodien gemischt mit afrikanischen Rhythmen und traditionellen Klängen vom Balkan – Christa Engbert gefällt’s.

Rotwein aus Plastikbechern

Die 63-jährige Mülheimerin sitzt mit ihrem Mann auf einem mit filigranen Mustern besprühten S-Bahn-Sitz. Mit Freundin Regula Bürgi trinken sie Rotwein aus kleinen Plastikbechern, die, einmal geleert, zwischen bunten Lampenschirmen abgestellt werden. Bürgi kommt aus der Schweiz, wohnt in der Nähe der Hauptstadt („Bern“, merkt Christa Engbert an) und findet den Melez-Zug so toll, dass sie mit ihm gleich in die Heimat fahren will: „Ich befürchte nur, dass wir in der Schweiz nicht spontan genug für so eine Veranstaltung wären“, meint die 52-Jährige. Dann will ein groß gewachsener Mann mit Fernsehkamera und ZDF-Mikro vorbei, und das kurze Gespräch ist vorbei.

Mit dem Kameramann geht es viel schneller durch die Massen, die erste schwere Zwischentür knallt hinter uns, die zweite wäre das auch, hätte eine junge Frau sie nicht mit einer Hand festgehalten, um mit der anderen ein „Pst“ zu signalisieren: Im Salonwagen schlucken die ausgelegten Teppiche jeden Hall. Nur die Stimme des in Bulgarien geborenen Autoren Dimitré Dinev ist zu hören, wie er mit starkem Akzent und detailverliebter deutscher Sprache aus seinen Werken liest. Ulrike Grieche lehnt an dem mit Teppichresten bezogenen Sitz, schaut verträumt aus dem Fenster und lächelt über den Wortwitz des Literaten. „Die vorgelesene Geschichte, dazu die Landschaft vor dem Fenster und die kuschelige Atmosphäre im Zug, das ist wie ein Film“, sagt die 54-jährige Stuttgarterin, eh sie sich wieder in der Geschichte des Bauarbeiters Nicodim verliert, der Beton mischte, bis sich das Schicksal einmischte.

„Romano Trajo“

Der Zug hält: Am Dortmunder Hauptbahnhof wartet die Band „Romano Trajo“ (deutsch: Roma-Leben) mit fröhlicher Gypsy-Musik, verwandelt die paar Quadratmeter Pflasterstein des Bahnsteigs in einen Festplatz, auf dem sich zwei unter die Arme greifen und im Kurzschritt vom rechten aufs linke Bein hüpfen. Bis Lokführer Frank Korten zur Weiterfahrt ruft.

Der weiße Wagen ist nicht mehr ganz so weiß. An allen Ecken und Enden sind die gebleichten Wände und die mit weißem Stoff bezogenen Sitzbänke mit Sprüchen und kleinen Comics beschmiert. Bemalt, möchte man eher sagen, ist diese Kunst doch hier gewollt, versichert eine der ehrenamtlichen Melez-Mitarbeiterinnen.

Unter den filigran verzierten Worten „Happiness ist only real when shared“ (Glück ist nur dann echt, wenn man es teilt) sitzt Nicole Sevik mit ihrer Mutter Gitta Martl. Von dem Leben des reisenden Volks erzählen die Frauen aus Österreich, weil sie selbst Roma sind und Sevik 2009 zum Linzer Kulturhauptstadtjahr sogenannte „Durchreiseplätze“ für die „letzten Nomaden Europas“ ins Leben gerufen hat. „Jeder sollte so leben, wie er will“, sagt Mutter Martl, „so lange er andere dadurch nicht schädigt.“

Kulturelle Bildung

Als eine Frau nach patriarchalischen Strukturen in einer Roma-Familie fragt, schüttelt die Journalistin und künstlerische Direktorin von Ruhr 2010, Asli Sevindim, mit dem Kopf. „Die Vorurteile sind immer noch da“, bemerkt die 36-Jährige und rät: „In jedem Zug, ob Melez oder nicht, sitzen sich Kulturen gegenüber. Man muss hinsehen und wahrnehmen, das Gespräch suchen. Dann werden wir feststellen, dass es hier nicht um Multikulti geht, sondern ums Menschsein.“ – „Bei jedem Zusammenleben entstehen Konflikte“, ergänzt Ruhr-2010-Geschäftsführer Oliver Scheytt . „Um diesen Konflikten vorzubeugen, müssen wir in kulturelle Bildung investieren.“ Die Stuttgarterin Susanne Wie (55) nickt im Vorbeigehen: „Man wird hier richtig politisiert.“

Im letzten Abteil des Zuges ist es still. Die Zierde an Sitzen und Wänden nimmt sich zurück, nur die Monitore über den Köpfen der wenigen Sitzenden zeigen bewegte Bilder. Junge Menschen sind es zumeist, von denen einer sagt, dass er an Selbstmord denke, seit er abgeschoben wurde.

„Blackbox Abschiebung“ heißt diese Kollage, die der Dokumentarfilmer Ralf Jesse produziert hat. Sie ist hervorragend, irritierend, findet hier aber kaum Publikum: „Die Menschen kommen herein, hören einen Moment zu und sind verunsichert“, beobachtet der 45-Jährige Kölner. „Damit habe ich aber schon erreicht, was ich wollte: zu zeigen, dass in allem Schönen auch etwas Unangenehmes steckt.“

Nächster Halt: Herne

Der Melez-Zug ist ein gemeinsames Projekt von Ruhr 2010 und der Deutschen Bahn/DB Regio NRW, das Festival der Kulturen gibt es aber bereits seit 2005. Für das Jahr der Kulturhauptstadt haben 60 DB-Auszubildende eine S-Bahn umgebaut, bemalt und dekoriert. 138 Meter ist der Zug lang und in der Zeit vom 2. bis zum 31. Oktober 13 Mal unterwegs. Er hält mit jeweils anderen Themen nun noch als Zug der Street-Art in Herne (22. Oktober, 18.35 Uhr), als Liebes-Express (23. Oktober, 16.09 Uhr) und Transorient-Express (24. Oktober, 11.10 Uhr) in Essen sowie am 28. Oktober um 13.55 Uhr am Bochumer Hauptbahnhof. Die Melez-Abschlussfeier findet in der Bochumer Jahrhunderthalle statt: Vom 28. bis zum 31. Oktober gibt’s reichlich Programm. Weitere Informationen unter www.essen-fuer-das-ruhrgebiet.ruhr2010.de/melez, Ticketpreise variieren.