Bei der Bildungs- und Schulpolitik hat sich die neue rot-grüne Landesregierung einiges vorgenommen. Mit Wolfgang Große Brömer (58), SPD-Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des Schulausschusses des Landtags, sprach WAZ-Redakteurin Andrea Rickers.

Fangen wir gleich mit einem Streitfall an: die Gemeinschaftsschule, die das NRW-Kabinett als Modellversuch auf den Weg gebracht hat. Welche Vorteile sehen Sie bei dieser Schulform?

Große Brömer: Die Gemeinschaftsschule ist als Angebot vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung zu sehen. So können auch bei rapide zurückgehenden Schülerzahlen vor allem im ländlichen Raum alle Bildungsgänge - Haupt-, Realschule und Gymnasium - erhalten werden. Im Ruhrgebiet kommen vor allem Standorte in Frage, wo Haupt- und Realschulen eng beieinander liegen, um sie unter einem Dach zusammenzuführen. Von der Geografie her könnten das in Oberhausen beispielsweise die Theodor-Heuss-Realschule und die Albert-Schweitzer-Hauptschule sein. Es gibt aber zurzeit keine konkreten Signale, ob diese Oberhausener Schulen an dem Schulversuch teilnehmen wollen. Dann müssten sie einen Antrag stellen. Letztlich entscheiden über die Teilnahme am Schulversuch muss der Schulträger. Theoretisch ist es denkbar, das auch gegen den Willen der Schulen zu machen. Aber wenn sich eine Schule verweigert, ist ein Versuch, der mit viel Zeit und Engagement verbunden ist, gescheitert.

Was ist der Unterschied zwischen einer Gemeinschafts- und einer Gesamtschule?

Erstens ist die Gesamtschule in NRW eine Regelschulform und das andere ist ein Schulversuch, eine Schule, die sich im Entwicklungsprozess befindet. Außerdem ist die Gesamtschule verpflichtet, ab Klasse sieben differenzierte Leistungsgruppen anzubieten. Die Gemeinschaftsschule kann selbst entscheiden, ob sie nach der Klasse fünf/sechs den gemeinsamen Unterricht fortsetzt oder die klassischen Bildungsgänge abbildet.

Sie wollen das Kibiz, das Kinderbildungsgesetz revidieren. Was ist der Hauptkritikpunkt?

Dass je nach Kassenlage beziehungsweise nach Finanzkraft der Eltern der Umfang der Betreuungszeit angepasst wird. Dies führt dazu, dass sich arme Eltern für die geringst mögliche Stundenzahl entscheiden. Aber es sind ja gerade die Kinder aus bildungsferneren und ärmeren Schichten, die mehr betreut werden sollten. Die Finanzierungsregelung ist der Knackpunkt.

Was wollen Sie ändern?

Der Kita-Besuch soll kostenlos gestaltet werden, also ohne Elternbeiträge. Wir wollen mit dem ersten Jahr beginnen und Schritt für Schritt einen Jahrgang hinzunehmen, so dass am Ende alle drei Kindergartenjahre kostenlos sind.

Wie soll das eine Stadt wie Oberhausen finanzieren. Sie ist doch auf die Elternbeiträge angewiesen?

Das geht nur mit einer Landesbeteiligung bei der Finanzierung. Wir sind ja als arme Stadt Teil dieses Teufelskreises: Die Kommune kann es sich aufgrund ihrer Haushaltssituation nicht leisten, wie zum Beispiel Düsseldorf, den Besuch des Kindergartens kostenlos anzubieten. So müssen gerade in klammen Kommunen im Vergleich hohe Elternbeiträge bezahlt werden. Langfristig muss hier das Land mehr in die Verantwortung genommen werden. Frühkindliche Bildung ist eine staatliche Aufgabe und keine Aufgabe der Kommune.

Woher soll das Land das notwendige Geld nehmen?

Das hat keiner in der Kasse, das wird ein Kraftakt. Wir müssen das durch Umfianzierungen und Umstrukturierungen im Landeshaushalt hinbekommen. Die Beratungen für den Haushalt 2011 beginnen im November. Dann wird sich zeigen, wo wir umverteilen können. Aber wenn wir in die Bildung investieren, ist das gut angelegtes Geld.

Die Familienzentren sind ein Projekt der vormaligen CDU-Landesregierung. Wie geht es damit weiter?

In den Familienzentren muss sich eine richtige Beratungsstruktur entwickeln, um umfassende Hilfe zu bieten. Ich glaube nicht, dass das in jeder Kita stattfinden kann. Was bedeutet, dass der flächendeckende Ausbau der Familienzentren gestoppt wird, um zunächst in die bestehenden zu investieren.

Was soll beim Thema Sprachförderung passieren?

Wir wollen mehr Geld in die eigentliche Sprachförderung stecken, weniger in das Testverfahren. Aber vor allem müssen wir den Anschluss vom Kindergarten zur Grundschule besser organisieren. Derzeit ist es so, dass die Grundschulen nur dann erfahren, ob Sprachförderung bei einem Kind nötig ist, wenn die Eltern das wollen und mitteilen. Für jedes Kind müsste es einen individuellen Bildungsfahrplan geben, den alle Beteiligten einsehen können. Und den Eltern muss verdeutlicht werden, dass ein Datenstopp nicht gut ist fürs Kind.

Seit etwas über einem Jahr gibt es das Bildungsbüro in Oberhausen - ihr Fazit?

Es braucht eine größere personelle Ausstattung - derzeit sind ja nur zwei Mitarbeiterinnen tätig - um ein Kristallisationspunkt für schulische Beratung sein zu können. Dann muss eine andere Kooperationskultur zwischen Schulen und Büro herrschen, das hat auch mit einem neuen Rollenverständnis von Schulaufsicht zu tun. Die sollte für alle Schulformen und nicht nur für die Grundschule lokal organisiert werden. Wer mehr Selbstständigkeit von Schulen will, muss auch daran gehen, nicht jemanden in Düsseldorf entscheiden zu lassen, was vor Ort passiert.

Aber ist dann nicht das Chaos perfekt? Schulische Ausbildung sollte doch keine städtische Angelegenheit sein, sondern eine des Bundes. Dass es bisher auf Länderebene organisiert wird, bringt ja schon Probleme mit sich. . .

Der Staat muss beschreiben, was Schule leisten soll und über welche Kenntnisse und Fähigkeiten die Schüler bei den verschiedenen Schulabschlüssen verfügen müssen. Die Schulen vor Ort sollten selbst entscheiden können, wie sie das gesteckte Ziel erreichen. Jeweils bezogen auf die individuellen Schülerstrukturen.

Stichwort Grundschulbezirke: Die neue Landesregierung will es den Städten überlassen, ob sie diese wieder einführen. Wird es die Grenzen in Oberhausen wieder geben?

Ich hoffe, dass der Schulentwicklungsplan, an dem die Verwaltung derzeit arbeitet, darauf Antworten geben wird. Zum Beispiel, was die Sozialstrukturen betrifft. Massive Fehlentwicklungen, wie in anderen Städten, hat es hier vermutlich nicht gegeben. Also, dass eine Schule jetzt besonders stark nachgefragt würde und andere leer ausgehen. Man könnte das also eventuell so weiter laufen lassen. Aber die zurückgehenden Schülerzahlen werden sich im Grundschulbereich zuerst auswirken. Im Hinblick auf die Sicherung von Schulstandorten in jedem Stadtbezirk und die Planungssicherheit für Eltern wären die Bezirksgrenzen als Steuerrungsinstrument sinnvoll.

Kopfnoten - noch ein Schulprojekt der Vorgängerregierung, das Frau Löhrmann zurückdrehen will. . .

Meiner Meinung nach sind die Kopfnoten von den meisten Beteiligten nicht ernst genommen worden. Da gab es dann an den Schulen die Praxis, dass alle Schüler entweder eine Eins oder eine Zwei auf dem Zeugnis bekommen haben. Dieses Instrument hat einfach nicht gehalten, was sich einige davon versprochen haben. Da fände ich es besser, wenn Schüler und Eltern eine Rückmeldung in Textform bekommen würden.

Die verkürzte Schulzeit beim Abitur an Gymnasien hat für viel Unruhe gesorgt. Das Angebot der Koalition in Düsseldorf, per Schulversuch jetzt doch wieder das Abitur nach neun Jahren anzubieten, ruft ebenfalls Irritationen hervor...

Ich halte die verkürzte Abiturzeit für absolut falsch. Vor allem war das Ganze schlecht vorbereitet und es war ein Fehler, in der Sekundarstufe I eine Jahrgangsstufe zu streichen. Ich persönlich würde am liebsten die Zeitmaschine einschalten und das Ganze zurückdrehen. Das geht aber leider nicht. Nun können die Schulen über die Krücke Schulversuch selbst entscheiden, ob sie bei der Kurzzeitform bleiben oder zurück zum neunjährigen Bildungsgang wollen. Innerhalb einer Schule beide Bildungsgänge anzubieten, halte ich organisatorisch für unmöglich.

Wie wird sich der Ganztag weiter entwickeln?

Spätestens in zehn Jahren werden alle Schulen im Ganztag laufen. Es wird also auch einen weiteren Ausbau in Oberhausen geben. Da aber die finanziellen Ressourcen sehr knapp sind, muss mehr Kooperation unter den Schulen stattfinden, um die vorhandenen Mittel intelligent einzusetzen. In Sterkrade hätte es sich zum Beispiel angeboten, dass beide Gymnasien und die Realschule in Sachen Mittagsverpflegung eine gemeinsame Lösung organisieren.

Den Schulentwicklungsplan hatten Sie schon erwähnt. der Ganztag wird hier auch eine Rolle spielen.

Die SPD-Fraktion legt Wert darauf, dass das Ganze nicht nur eine Datensammlung ist, sondern auch eine inhaltliche Analyse ist bezogen auf Perspektiven und wie die Oberhausener Schullandschaft weiter entwickelt und verbessert werden kann. Der Schulentwiclungsplan wird im Frühjahr 2011 vorgelegt und ist auf fünf Jahre ausgerichtet.

Prognosen ihrerseits?

Die größte Schwierigkeit wird sein, richtige und verlässliche Antworten auf die rapide sinkenden Schülerzahlen zu finden. Ich befürchte, dass es am Ende der fünf Jahre überhaupt nur noch eine Hauptschule in Oberhausen geben wird, wahrscheinlich ist das die Katholische Hauptschule. Über den ein oder anderen Grundschulstandort werden wir auch reden müssen. Im Bereich der Innenstadt sind Schulen gefährdet, da könnte es Zusammenlegungen geben.

Einen wichtigen Bereich haben wir noch gar nicht angesprochen. Sie wollen „Inklusion“ schaffen?

Das wird eine ganz große Herausforderung, wenn wir den Anspruch der UN-Menschenrechtskonvention ernst nehmen, wonach Kinder mit Behinderungen das Recht haben, sich ihren Schul- und Förderort selbst zu wählen. Da haben wir in Deutschland mit seinem ausgeprägten Förderschulmodell einen großen Nachholbedarf. Das wird Auswirkungen auf die Schullandschaft haben. Im Prinzip muss künftig jede Schule in der Lage sein, Kinder mit Lern- und Körperbehinderungen zu unterrichten und zu fördern. Als Exportnation gegen Menschenrechte zu verstoßen, das können wir und nicht weiter leisten.