Springen. Fallen lassen. Und schweben. Als Marc Boiting wieder den Boden unter seinen Füßen spürt und sich vom Fallschirm losmacht, wird er auf eine Gruppe Männer aufmerksam.

Man kommt ins Gespräch über Lady Di, die an diesem Tag gestorben war, dann über das Fallschirmspringen, das einer von ihnen auch für die Bundeswehr übt: „Die Jungs waren Reservisten“, erinnert sich Marc Boiting. „Sie haben mich auf die Idee gebracht.“

Der 47-Jährige sitzt entspannt in seiner steifen Uniform an einem gedeckten Tisch in der Schlossgastronomie am Kaisergarten. In der Sonne, die durch die Fenster scheint, blitzt das goldene R auf seinen Schulterstücken auf. R, das steht für Reservist. Grundsätzlich ist das jeder, der seinen Grundwehrdienst geleistet hat. Nur ein kleiner Teil der Reservisten ist aber aktiv und nimmt regelmäßig an Wehrübungen teil: Rund 123 000 Männer und Frauen sind bundesweit im Reservistenverband organisiert, der sie schult, für den Ernstfall fit hält und sie neuerdings – gemäß ihrem vom Parlament übertragenen Auftrag – zu Mittlern zwischen Bundeswehr und Zivilbevölkerung ausbildet: Statt Schießübungen und Ewiggestrigem im geschlossenen Kreis suchen Reservisten heute vermehrt die Öffentlichkeit, stellen sich Diskussionen über die Bundeswehr und besonders Afghanistan. „Wir wünschen uns mehr Feingefühl in der Bevölkerung für sicherheitspolitische Fragen“, sagt Sebastian Glusa. Der 67-Jährige Oberstleutnant trägt kein R auf seinen Schulterstücken, sondern ein schwarz-rot-goldenes Band: die Reservistenlitze. Glusa sitzt der Kreisgruppe Rhein-Ruhr vor. In Oberhausen gehören ihr rund 100 Mitglieder zwischen 25 bis 76 Jahre an. Unter ihnen: Marc Boiting.

Der Offizier kommt gerade von einer Wehrübung zurück. Zwei Wochen war der vierfache Familienvater in Neustadt, wo er am Einsatzausbildungszentrum für Schadensabwehr die Besatzung eines großen Schiffs trainiert hat. Monate im Voraus war dieser Einsatz geplant, mit seinem Vorgesetzten und der Familie abgesprochen. „Heute ist es nicht mehr so, dass man Tage vorher einen Anruf erhält, weil schnell große Massen benötigt wurden.“ Vor sieben Jahren ist der Reservistenkonzeption der Punkt Freiwilligkeit hinzugefügt worden. Seitdem kann ein Reservist bis zum Tag vor seiner Wehrübung diese ablehnen. Marc Boiting würde das nur ungern tun: Er lässt sich jedes Jahr einmal von seinem Job freistellen und nimmt an einer Übung teil, war unter anderem in Dschibuti. „Ich fühle mich dem Staat verbunden und möchte etwas für ihn tun“, erklärt der Elektroingenieur. Wie gehen Familie und Freunde damit um? „Sie unterstützen mich, mein ältester Sohn begleitet mich sogar regelmäßig, wenn ich als Botschafter in Uniform unterwegs bin.“

In der Bundeswehr seien Reservisten heute wegen ihrer Expertise gefragt. Die acht Prozent, die an Einsätzen im Ausland teilnehmen, leisten dort „absolute Spezialistendienste – von der Feldpost bis zum Schulbau in Afghanistan“, sagt Sebastian Glusa. In seiner Zeit bei der Bundeswehr umfasste diese noch rund 700 000 Soldaten. Heute sind es knapp 250 000. 80 000 weitere Streitkräfte plant Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) zu streichen. Wie wird die geplante Abschaffung der Wehrpflicht den Reservistenverband beeinflussen? „Minimal“, glaubt Glusa und rechnet vor: „Derzeit leisten nur rund 20 Prozent eines Jahrgangs ihren Wehrdienst ab. Von denen entwickelt nur ein kleiner Teil eine Verbindung zur Bundeswehr, die meisten aber erst nach Jahren, in denen sie sich um ihr Zivilleben kümmern.“

„Für die Marine gesprochen halte ich die Wehrpflicht von sechs Monaten einfach für zu kurz, weil ich zur Zeit nicht sehe, wie die Wehrpflichtigen in ein komplexes System Schiff sinnvoll integriert werden können“, ergänzt Marc Boiting. Eine Abschaffung sei aber kritisch zusehen, weil damit auch der zivile Ersatzdienst entfalle. Er befürworte das Alternativmodell des Freiwilligen Dienstes: „Wir haben heute keine militärische, sondern eine demoskopische Bedrohung.“ – „Frauen und Männer sollten nach der Schule ein Jahr lang Dienst am Staat tun, entweder einen sozialen Dienst oder den Grundwehrdienst“, sagt Glusa und fügt nach einer Pause hinzu: „So entwickeln sie vielleicht wieder das Gefühl, auch Bürger dieses Staats zu sein.“