Oberhausen. .
Immer mehr ausländische Prostituierte kommen durch die EU-Erweiterung legal nach Deutschland. Viele von ihnen sind abhängig von einem Zuhälter, werden mit falschen Versprechungen gelockt – oder sind schlimmstenfalls gezwungenermaßen hier. In Oberhausen bietet das Projekt „Lilja“ Hilfe an.
Um 15 Uhr sind in der Flaßhofstraße noch nicht viele Männer unterwegs. Sie schlendern an den Schaufenstern entlang, in denen Frauen auf Barhockern sitzen und warten. Sie studieren das Angebot, zögern, bleiben stehen. Manche wirken verschämt, senken den Blick, als sie uns sehen. Auf dieser Seite der Scheiben sind sonst keine Frauen anzutreffen. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, scheint ein Jugendlicher zu überlegen, ob er genügend Geld dabei hat. Ein Mittdreißiger kommt schnellen Schrittes entlang, im hellen Nadelstreifen-Anzug. Zielstrebig geht er auf eines der Häuser zu, deren Innenleben von außen uneinsehbar bleiben. Mittagspause.
Wir folgen dem Anzugträger ins „Eros-Center“. Überraschend warm ist es drinnen. Ein Blick auf die vor den Türen sitzenden Frauen macht verständlich, warum hier so viele Heizstrahler angebracht sind. Hohe Schuhe, aufreizende Unterwäsche – viel mehr haben sie nicht an. Lilli geht zu einer von ihnen, spricht kurz mit ihr auf Rumänisch. Ihre Muttersprache ist das einzige, was die beiden Frauen verbindet. Die eine Prostituierte, die sich in Deutschland nicht verständigen kann, vermutlich abhängig ist von einem Zuhälter – und schlimmstenfalls gezwungenermaßen hier. Die andere (sie heißt nicht wirklich Lilli, will ihren Namen jedoch nicht offenbaren) ist 33 Jahre alt, Sozialpädagogin. Sie lebt seit sieben Jahren in Deutschland, spricht Englisch und Französisch, versteht Spanisch und Italienisch. Sie ist eine von zwei Mitarbeiterinnen beim „Projekt Lilja“, einer Beratungsstelle für Prostituierte gleich um die Ecke der Rotlichtmeile.
Kontrolle versus Privatsphäre
Wir gehen hinunter, in den Keller, wo das Treiben auf den Etagen organisiert wird. Ein Arbeitsplatz wie man ihn von Pförtnerhäuschen kennt. Schlüsselbrett, Computer, Telefon. Hier sitzen rauchend zwei Frauen, in ihrem Blickfeld vier kleine Monitore. Im schwarz-weißen Bild sieht man Männer das Treppenhaus hinauf- und hinunterlaufen. Zumindest dieser Bereich ist unter Kontrolle. Was in den Zimmern passiert, fällt unter Privatsphäre.
Martina weiß trotzdem über vieles Bescheid. Die 38-Jährige arbeitet seit fünfeinhalb Jahren als so genannte Tagesfrau. „Ich kümmere mich um alles“, erklärt sie. Ihren wirklichen Namen möchte sie nicht nennen. „Ich weiß, dass viele Frauen in illegale Clubs gebracht werden“, sagt sie über die Osteuropäerinnen. Dort müssten die Frauen dann für ein geringes Entgelt den ganzen Tag zur Verfügung stehen. Im „Eros-Center“ sind keine Zuhälter geduldet. Man will nur Frauen, die selbstbestimmt arbeiten. „Aber wir leben gefährlich“, sagt Martina, „wir sind schon oft bedroht worden.“
80 Prozent aus Südosteuropa
15 Häuser mit 218 Zimmern gibt es an der Flaßhofstraße. Die Frauen zahlen 105 bis 200 Euro Miete pro Tag. Über 80 Prozent der Prostituierten hier stammen aus Südosteuropa, schätzen die „Lilja“-Mitarbeiterinnen. Seit dem EU-Beitritt einiger Länder sei die Anzahl gestiegen.
„Es gibt ganz klare Fälle von Zwangsprostitution“, erklärt Lilli, „auch wenn die Frauen versuchen, es zu verstecken. Und dann gibt es die Armutsprostitution. Frauen, die Kinder haben und keine Chance, in ihrem Heimatland eine Arbeit zu finden, bei der sie mehr als hundert Euro verdienen – obwohl alleine die Miete schon so viel kostet.“
Lilli hat in den Monaten, in denen sie hier ist, schon einiges erlebt. „Die kriminellen Akteure arbeiten nicht mehr mit körperlicher Gewalt“, sagt sie, „sie arbeiten auf Liebesbeziehung. Sie tun so, als hätten sie Geld und dann haben sie plötzlich Probleme. Liebling, sagen sie, kannst du das nur einmal machen bitte, und plötzlich geht die Frau schon seit vier Jahren auf den Strich.“ Es gebe auch Fälle, in denen Frauen völlig arglos nach Deutschland gelockt werden. Sie sollen einen Job in der Gastronomie bekommen, „und dann sind plötzlich ihre Papiere weg, ihr Telefon weg.“ Und dann sind da noch die jungen Mädchen: „Die sind 18 Jahre alt, sehen ein Mädchen mit tollem T-Shirt und dann kommt jemand und sagt, das kannst du auch alles haben.“
„Nur für ein Jahr“
„Nur für ein Jahr“ sagen sich die Osteuropäerinnen, die im Bordell gelandet sind, doch es werden meistens viele mehr. Irgendwann trauen sie sich nichts anderes mehr zu. „Sie haben niedrige Schulabschlüsse“, sagt Lilli, „wenig Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt, viele haben Schulden.“ Die Sozialpädagogin weiß, dass die Frauen nicht nur mit ihrer Jugend und mit ihrer Selbstachtung bezahlen müssen. Es gibt Zuhälter, die kassieren: „Wir sind sicher, dass die Frauen bezahlen. Aber ob es 500 Euro sind oder 10.000, das wissen wir nicht.“ Die Frauen schweigen und von den Drahtziehern halten die „Lilja“-Mitarbeiterinnen sich fern. Die letzten Drohungen sind noch nicht lange her.
Gefährlich leben auch die Prostituierten. „Sehr viele haben keine Krankenversicherung“, sagt Lilli. Bis 2001 sei gesetzlich geregelt gewesen, dass die Frauen sich monatlich eine Bescheinigung vom Gesundheitsamt ausstellen lassen mussten, den so genannten Bockschein. „Es wäre besser für die ganze Stadt, wenn das wieder Pflicht wäre“, sagt Lilli. Ungeschützter Geschlechtsverkehr ist das größte Problem. Die Konkurrenz ist groß, die Zahlen sprechen für sich: Sex mit Kondom kostet 30, ohne 100 Euro. Auch gebe es viele ungewollte Schwangerschaften. Lilli: „Eine private Abtreibung kostet 400 bis 600 Euro.“
Wodka Red Bull mit Kokain
Sozialleistungen, Krankenversicherung – die Frauen könnten als EU-Bürgerinnen einiges erhalten, was ihnen das Leben erleichtern würde. Doch sie müssten die Gesetze kennen, die Anträge ausfüllen und sich auf den Ämtern verständlich machen können. Sie tun es nicht „und landen nach fünf Jahren, in denen sie Wodka Red Bull mit Kokain getrunken haben, um das alles auszuhalten, wie ein Wrack auf der Straße“, sagt Lilli. Sie ist wütend. Das haben die Frauen nicht verdient, sagt sie. Schließlich zahlten sie Abgaben, sechs Euro pro Tag an die Stadt und nochmal sechs Euro ans Finanzamt.
Mit ihrer Bulgarisch sprechenden Kollegin begleitet Lilli die Frauen zum Einwohnermeldeamt, zum Frauenarzt, zur Ausländerbehörde und Krankenkasse. Es ist mühsam und manchmal auch frustrierend. Sie dolmetschen – und bieten einen Deutschkurs an. „Damit sie sich mehr trauen“, sagt Lilli, „und vielleicht irgendwann sagen: Ich kann auch etwas anderes.“