Oberhausen. Für viele ist es eine schlimme Vorstellung, jeden Tag mit Beutel am Körper herumzulaufen - mit einem künstlichen Darmausgang. Doch es geht.
Alles, was mit dem Darm zu tun hat, darüber wollen die meisten Menschen nicht nachdenken, geschweige denn sprechen. Noch immer ist das Thema Verdauung schambehaftet. Dabei gibt es in Deutschland viele Menschen, die eine Darmkrebs-Diagnose bekommen, unter dem Reizdarmsyndrom oder Inkontinenz leiden oder eine entzündliche Darmerkrankung haben. Sie leben in einer Gesellschaft, die dieses für sie so bestimmende Thema meidet und tabuisiert. Was das für die Betroffenen bedeutet, weiß Raimund Runte, Sprecher der rund 110 Selbsthilfegruppen in Oberhausen. Er ist selbst Betroffener.
Kann ich mit künstlichem Darmausgangs Schwimmen gehen?
Runte leitet die Selbsthilfegruppe der Menschen mit Darmerkrankungen. Die Teilnahme ist kostenlos. Rund 20 Patienten, Angehörige und Interessierte treffen sich hier, um Informationen auszutauschen, Verständnis und Rat zu erhalten.
Der häufigste Grund dafür, dass Betroffene die Selbsthilfegruppe aufsuchen, ist nach Raimund Runtes Erfahrung, dass nach einer Operation Probleme aufkommen. Was kommt auf mich im Alltag zu? Was muss ich bei meiner Ernährung beachten? Was kann ich tun, wenn ich nach einer Stoma-Rückverlagerung Probleme habe? Wie kann ich weiterhin meine Hobbys ausüben, Sport machen, schwimmen gehen und verreisen? Was ist mit Sex? Wie kann ich meinen Beruf weiter ausüben?
Plötzlich war da ein künstlicher Darmausgang nach der OP
Auch Raimund Runte selbst hat sich einige dieser Fragen gestellt, als er vor mehr als 30 Jahren wegen Darmkrebs‘ operiert worden ist. Als er aus der Narkose aufwachte und seinen künstlichen Darmausgang sah, war er geschockt. „Ich wusste von nichts und dachte: Was ist das?“ Heute seien Patientinnen und Patienten besser aufgeklärt, aber noch immer gebe es Folgen einer Operation, mit denen Betroffene nicht gerechnet haben.
Zum Beispiel, wenn der künstliche Darmausgang nach einiger Zeit wieder rückgängig gemacht wird. Manchmal werde das Stoma nur vorübergehend nach einer Operation gelegt, um den Darm zu entlasten, erklärt Runte. Doch nach einer Rückverlegung könne es zu Problemen kommen.
Bei Darmkrebs sei häufig der Mastdarm, also das letzte Stück des Organs vor dem Schließmuskel, betroffen. Werde dieser entfernt, müsse der sich nun an dieser Stelle befindliche Darm seine Funktion (den Stuhl zu lagern) übernehmen. Das klappe in der Regel aber nicht sofort und brauche Zeit. Das sei vielen Patientinnen und Patienten nicht bewusst.
Darmentzündung: Angst vor plötzlichem Durchfall
„Mir ging es mit Stoma eigentlich gut“, erinnert sich Raimund Runte zurück. Nach der Rückverlegung schlief er wie viele andere Betroffene nicht gut, musste ständig nachts aufstehen, um die Toilette aufzusuchen. Heute möchte er anderen Betroffenen aber die Sorgen nehmen: „Es wird besser.“ Der Körper müsse sich nur erst umstellen.
Für darmkranke Menschen bietet der Alltag einige Hürden. Personen, die eine entzündliche Darmerkrankung haben, wie etwa Colitis ulcerosa, können plötzlich Durchfall bekommen. „Sie gucken jeden Moment nach einer Toilette“, sagt Raimund Runte. „Manche gehen gar nicht mehr aus dem Haus.“ Stomaträgerinnen und -trägern gehe es teils ähnlich. Abends schwimmen gehen mit Stomabeutel? Das könnten sich die Wenigsten vorstellen.
Kann man mit krankem Darm abends noch ausgehen?
Auch hier kann Raimund Runte aber beruhigen. „Der Darm arbeitet nicht permanent.“ Vor allem morgens und abends sei er aktiv. „Tagsüber ist meistens Ruhe.“ Zum Schwimmen gehen sei also zum Beispiel nachmittags ein guter Zeitpunkt. Stomaträgerinnen und -träger brauchen dann meist nur einen kleinen, dezent sichtbaren Beutel zur Sicherheit.
Wer abends rausgehen möchte, könne ab und zu auf Medikamente zurückgreifen, die die Darmtätigkeit vorübergehend stoppen. Allerdings seien Abendtermine in der Tat „problematisch“, bestätigt Raimund Runte. Betroffene sagten sie daher häufig ab und erfinden Gründe. Die Hemmung, über den Darm und die Verdauung zu sprechen, sei meistens zu groß. „Es ist noch immer ein Tabu.“
Anders ist das in der Selbsthilfegruppe. Da können Betroffene ganz frei reden. „Jeder kennt die Probleme“, begründet Raimund Runte. Er findet, jeder und jede Einzelne solle „dankbarer sein“, dass ihr Körper sie trage. Das Verhältnis zum eigenen Körper müsse sich wandeln hin zu mehr Akzeptanz und Achtsamkeit. So könnte vielleicht auch die Scham in der Gesellschaft mit der Zeit immer mehr abnehmen. So oder so will Raimund Runte Menschen mit Darmerkrankungen Hoffnung machen: „Ich habe das alles durchgemacht“, sagt er. „Und ich bin noch immer da.“
Nach Angaben des Bundesforschungsministeriums leiden in Deutschland rund 320.000 Menschen an entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa (Zahlen von 2019). Die Deutsche Ilco schätzt, dass in Deutschland mehr als 150.000 Menschen mit künstlichem Darmausgang oder künstlicher Harnableitung (Stoma) leben. An Darmkrebs – einer der Hauptgründe für ein Stoma – erkranken jährlich rund 60.000 Menschen. Die Deutsche Ilco ist eine Selbsthilfevereinigung. Das Wort „Ilco“ ist eine Zusammensetzung der medizinischen Begriffe für Dünndarm (Ileum) und Dickdarm (Colon).
>>> Infos zu den Selbsthilfegruppen
- Die Oberhausener Selbsthilfegruppe für Menschen mit Darmerkrankungen trifft sich jeden ersten Samstag in den ungeraden Monaten um 15 Uhr beim Paritätischen Wohlfahrtsverband an der Wörthstraße 7 in der Oberhausener Innenstadt. Wer teilnehmen möchte, weil er oder sie selbst betroffen, Familienmitglied oder interessiert ist, kann einfach vorbeikommen oder sich bei Raimund Runte melden unter 0208 22673 oder per Mail an Runte-co@t-online.de.
- Weitere Selbsthilfegruppen der Deutschen Ilco treffen sich zum Beispiel in Bottrop am ersten Montag im Monat um 16.30 Uhr im Gemeindehaus der Gnadenkirche an der Gladbecker Straße 258 in Bottrop.
- Die Gruppe in Mülheim trifft sich jeden ersten Mittwoch im Quartal um 17 Uhr im Marienhospital an der Kaiserstraße 50 in Mülheim an der Ruhr.
- Die Gruppe in Essen trifft sich jeden ersten Montag im Monat um 16 Uhr im Margot-von-Bonin-Haus (am Klinikum Essen) am Hohlweg 8.
- Die Selbsthilfegruppen agieren komplett unabhängig und arbeiten nicht mit Pharma-Unternehmen zusammen. Die Mitglieder sollen den Informationen, die sie in der Gruppe bekommen, vertrauen können, erklärt Raimund Runte.
- Neben den Selbsthilfegruppen bietet die Ilco außerdem einen Besuchsdienst im Krankenhaus an. Dieser soll helfen, Patientinnen und Patienten vor oder nach Operationen gut aufzuklären, sodass sie vorbereitet sind und ihnen Sorgen genommen werden.
- Weitere Infos zur Deutschen Ilco und ihren Angeboten gibt es auf www.ilco.de.