Oberhausen. Drogen, Prostitution, frühe Schwangerschaft – wenn Mädchen oder Jungen ihren Halt verlieren, gibt es in Oberhausen den letzten Rettungsanker.

Irgendwo in Oberhausen, in der Nähe des Marienviertels, steht inmitten von wuchtigen Altbauten, herrlich alten Straßenbäumen und durchaus mondänen Autos ein vollkommen unauffälliges Haus, an dem jeder achtlos vorbeigehen würde. Fünf Namen stehen an den Klingeln, doch dies sind nicht einfach nur fünf Nachbarn, die einander im Treppenhaus grüßen. Es ist eine Schicksalsgemeinschaft.

Ins sozialpädagogisch betreute Trainingswohnen des Vereins „Löwenzahn“ kommen junge Menschen, die den Halt im Leben verloren haben. Die Drogen genommen, auf der Straße gelebt, ungewollt schwanger geworden sind. Die klauten oder ihren Körper verkauften. Sie haben jedenfalls schon viel zu viel gesehen und erlebt für ihr junges Alter. So wie Julia (Name geändert), die seit Dezember 2022 hier lebt. Sie ist erst 16, doch ihr Leben stand schon mehrmals auf der Kippe. Die Wohngemeinschaft ist ihre Rettung – aber auch ihre letzte Chance.

Jugendliche in Not: warum die Hilfe schwierig ist

„Bei Jugendlichen gibt es keine Obdachlosen“, erklärt Bahri Hacıimamoğlu. „Jeder von ihnen hat das Recht, zum Jugendamt zu gehen und sich Hilfe zu suchen.“ Doch der Erzieher, der diese und eine weitere Trainingswohn-WG in Oberhausen leitet, weiß auch: Manche schaffen es einfach nicht, sich in den üblichen Hilfeeinrichtungen an die Regeln zu halten.

Keine Gewalt, keine Drogen, kein Diebstahl – auch beim Trainingswohnen ist nicht alles erlaubt, dennoch ist vieles hier anders. „Du kannst bei uns ein Gruppenleben haben oder ein völlig autonomes Leben“, sagt Bahri Hacıimamoğlu. Die Jugendlichen genießen die Freiheit einer eigenen Wohnung, sind aber auch selbst fürs Putzen, Waschen, Einkaufen und Kochen verantwortlich. Sie sollen lernen, selbstständig zu sein, haben aber auch 23 Stunden am Tag einen Ansprechpartner.

Julia aus Oberhausen: Zu Hause abgehauen mit 15, dann kamen die Drogen

Julia hat dieses Angebot schon oft in Anspruch genommen. Hat unten in der Gemeinschaftsküche mit Erzieherin Dorota Cetnarowski gekocht oder gemalt. „Mit der Zeit weißt du, womit du sie locken kannst“, sagt die 58-Jährige. „Mit Essen klappt es immer.“ Zusammen Gemüse schnippeln oder Nudeln kochen – ganz normal für die meisten, die mit ihrer Familie zusammenleben.

Für die Jugendlichen hier ist es etwas Besonderes. Sie werden weich, öffnen sich und schütten ihr Herz aus. „Wir sind die letzten, die an diese Jugendlichen glauben“, sagt Cetnarowski. Immer und immer wieder ermuntern sie ihre Zöglinge: zum Aufstehen aus dem Bett, zum In-die-Schule-Gehen, zum Schreiben von Bewerbungen, zum Zahlen von Mahnungen oder einfach nur zum Duschen. „Es ist so eine Sisyphusarbeit“, sagt Dorota Cetnarowski. Trotzdem würden sie niemals sagen: „Das war ja klar, dass du das nicht schaffst.“ Das haben die Jugendlichen schon oft genug von anderen gehört.

Wenn eine Mutter das Sorgerecht abgibt

Erzieher Bahri Hacıimamoğlu ist beim Oberhausener Verein „Löwenzahn“ für die beiden Trainingswohn-Stationen zuständig.
Erzieher Bahri Hacıimamoğlu ist beim Oberhausener Verein „Löwenzahn“ für die beiden Trainingswohn-Stationen zuständig. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Julias Mutter hat irgendwann kapituliert. Nachdem ihre Tochter mit 15 zu Hause auszog und nicht aufhörte, Drogen zu nehmen, hat sie ihr Sorgerecht abgegeben. Sie wollte nicht mehr zuständig sein. Das habe geschmerzt, erzählt Julia. Aber sie könne ihre Mutter auch verstehen: „Ich habe ihr so viele Sorgen gemacht. Hab so oft den Krankenwagen gerufen mitten in der Nacht, hab mich selbst in die Psychiatrie einweisen lassen.“

Sie zieht ihren Pferdeschwanz zurecht, ruckelt an ihrer Brille. Sie wolle gerne ihre Geschichte erzählen. Was ihr widerfahren ist, warum sie hier gelandet ist. Es geht ihr inzwischen besser, sagt sie, zum ersten Mal sei sie „richtig angekommen“ und fühle sich „richtig zu Hause“. Sie möchte, dass ihre Mutter es liest, dass sie ihren Schulabschluss nachmacht, und stolz auf sie ist.

Aber sie ist auch nervös, schaut beschämt umher, als sie erzählt, wie sie die Schule geschmissen und an die Drogen geraten ist. „Ich hab mehrere Leute kennengelernt und bin dann in ein tiefes Loch gefallen“, umschreibt sie diese Zeit. Nach dem Kiffen kamen die chemischen Rauschmittel: Kokain, LSD, Ecstasy, Speed. Sie probierte alles aus, was ihr angeboten wurde. Erst gratis, dann musste sie zahlen. Wie, darüber möchte sie lieber nicht sprechen.

Betreutes Wohnen in Oberhausen: „Manchmal möchte man sie packen und schütteln“

„Wir sind sehr, sehr stolz auf Julia“, sagt Löwenzahn-Erzieherin Dorota Cetnarowski. Sie stehe um fünf Uhr in der Früh auf, um pünktlich in der Schule zu sein. Dabei habe sie sich bis vor wenigen Wochen um fünf erst ins Bett gelegt und bis 15 Uhr geschlafen. Auch dafür hatten sie Verständnis in der Trainingswohn-WG. „Manchmal“, sagt Bahri Hacıimamoğlu, „steht man da und fragt sich: Warum? Warum? Dann möchte man sie packen und schütteln, aber wir wissen: Die haben alle ihre psychischen Probleme. Und wenn sie nicht in die Schule gehen, dann hat das einen Grund.“

So wie ein anderer Bewohner, 17 Jahre alt, der unter einer ausgeprägten Sozialphobie leide. „Wir haben ihn in die Schule begleitet, zwei Tage lang. Am dritten Tag sollte er alleine hingehen, aber es klappte nicht.“ Wenn das geschehe, dann müsse erst etwas anderes passieren, damit es weitergehen kann. Es braucht Therapie. Und Vertrauen.

Dorota Cetnarowski ist neben ihrer Arbeit als Erzieherin auch Malerin. Dieses Talent setzt sie auch für ihre Schützlinge im sozialpädagogisch betreuten Trainingswohnen ein.
Dorota Cetnarowski ist neben ihrer Arbeit als Erzieherin auch Malerin. Dieses Talent setzt sie auch für ihre Schützlinge im sozialpädagogisch betreuten Trainingswohnen ein. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Als Julia noch auf Drogen war, ständig unterwegs und nichts auf die Reihe kriegte, habe Dorota Cetnarowski, die selbst Mutter von drei Kindern ist, häufig gedacht: „Sie ist erst 16 und muss schon alles alleine machen. Sie hat das Recht, noch nicht erwachsen zu sein.“

Im Hintergrund jedoch tickt immer die Uhr: Die Jugendlichen dürfen höchstens bis zum 21. Geburtstag bleiben. Bis dahin müssen sie es hinkriegen, ein selbstständiges Leben zu führen. „Wir sind die letzte Station für sie“, sagt Dorota Cetnarowski. „Wenn sie es hier nicht schaffen, dann landen sie auf der Straße.“

Mit aller Kraft versuchen sie, die Jugendlichen in die richtigen Bahnen zu lenken. Doch manchmal reicht das alles nicht. Wie bei der Bewohnerin, die sie immer und immer wieder gewarnt habe. „Verhüten, verhüten, verhüten.“ Und dann sei sie doch schwanger geworden. „Ihre Mutter hat sie auch mit 13 bekommen und war ein Junkie. Sie ist bei ihrer Oma aufgewachsen.“ Die traurige Wahrheit: Auch sie traute sich nicht zu, ihr Kind aufzuziehen, gab es wiederum ihrer Mutter. Zuletzt sei sie am Hauptbahnhof gesehen worden, „saufend“.

„Löwenzahn“ in Oberhausen: Immer mehr Jugendliche brauchen Hilfe

„Wir haben inzwischen ein dickes Fell“, sagt Bahri Hacıimamoğlu über seine Arbeit. Egal, welche tragischen Geschichten sie erlebten, „zusammen mit den Klienten den ganzen Tag zu heulen bringt nix“. Sie müssten stark bleiben, auch aushalten, wenn sie selbst beschimpft werden („Das darf man niemals persönlich nehmen“), der eigenen Angst mit Pragmatismus begegnen: „Wir schließen drei Türen hinter uns ab, wenn wir hier übernachten“, sagt Dorota Cetnarowski. Und doch geben sie nicht so leicht auf. „Ein Rauswurf kommt hier sehr selten vor“, sagt Bahri Hacıimamoğlu. Die Nachfrage nach dieser Art von Hilfe sei groß und werde immer größer. „Ich könnte heute noch zwei weitere Häuser füllen.“ Sechs Jugendliche stünden auf der Warteliste.

Julia blickt optimistisch in ihre Zukunft. Sie nimmt seit der Entgiftung und stationären Therapie im Sommer keine Drogen mehr – „nur ab und zu am Wochenende mal einen Joint“ – und hat den Kontakt zu diesen Leuten abgebrochen, die nicht gut für sie waren. „Ich genieße gerade die Ruhe“, sagt sie. Sie hat wieder Kontakt zu ihrer Mutter und verbringt gerne Zeit mit ihrem Freund. Der wohnt auch in einer Einrichtung für betreutes Wohnen, hat demnach selbst ein Päckchen zu tragen. Wird Julia es schaffen? „Es wird dauern“, sagt Bahri Hacıimamoğlu.