Oberhausen. Im dicken Datenwust hat eine Zahl die Politiker im Oberhausener Rat erschreckt: Die Zahl der Verstorbenen, die keiner vermisst, steigt stark.

In Oberhausen sind manche Menschen so einsam, dass sie selbst niemand vermisst, wenn sie sterben. Zum Teil erschrocken, zum Teil entsetzt reagieren die Politikerinnen und Politiker im Stadtrat an diesem Montag auf die neuesten Zahlen der Rathaus-Manager, wie viele Menschen in Oberhausen in den vergangenen zehn Jahren nicht von ihrer Familie bestattet wurden, sondern zwangsweise den Umständen geschuldet von der Behörde.

Auf 127 verstorbene Oberhausenerinnen und Oberhausener traf dies im Jahre 2014 zu, im vergangenen Jahr waren es bereits 278 Menschen, die so einsam ihren letzten Weg gehen mussten. Das ist ein Anstieg der ordnungsbehördlichen Bestattungen um mehr als das Doppelte innerhalb von acht Jahren. Bedarf es noch eines stärkeren Beweises, dass trotz aller Überflutung mit elektronischen Kontakt-Möglichkeiten Einsamkeit ein immer größeres Problem darstellt?

CDU: Wir waren von den Zahlen und den Steigerungsraten erschrocken

Simone-Tatjana Stehr jedenfalls, die Vorsitzende der 19-köpfigen CDU-Ratsfraktion, hat diese Zahl durch die Große Anfrage zum Thema „Einsamkeit“ ans Licht der Öffentlichkeit befördert. „Wir waren von den Zahlen und den Steigerungsraten dieser Bestattungen erschrocken. Uns sollte gelingen, für das gesamtgesellschaftliche Problem der Einsamkeit Sensibilität zu entwickeln.“

Gleich als ersten inhaltlichen Tagesordnungspunkt haben die 55 anwesenden Ratsherren und Ratsfrauen das Thema „Einsamkeit“ in ihrer ersten Sitzung im modernisierten Ratssaal am Montag diskutiert. Als Basis dienten die Antworten auf die Große Anfrage der CDU, deren Fakten zur Situation einsamer Menschen von eifrigen Stadtbediensteten in den vergangenen Monaten zusammengetragenen wurden.

Nicht nur die Oberhausener CDU-Fraktion zeigte sich über die Zahlen zur Einsamkeit der Menschen in Oberhausen erschrocken. Hier zu sehen von links in der ersten Reihe: Simone-Tatjana Stehr, Tobias Henrix (Fraktionsgeschäftsführer), Gundula Hausmann-Peters und Denis Osmann während der ersten Sitzung des Stadtrates im frisch renovierten und umgebauten Ratssaal.
Nicht nur die Oberhausener CDU-Fraktion zeigte sich über die Zahlen zur Einsamkeit der Menschen in Oberhausen erschrocken. Hier zu sehen von links in der ersten Reihe: Simone-Tatjana Stehr, Tobias Henrix (Fraktionsgeschäftsführer), Gundula Hausmann-Peters und Denis Osmann während der ersten Sitzung des Stadtrates im frisch renovierten und umgebauten Ratssaal. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Schlimm fanden dabei die Lokalpolitiker nicht nur die Zahl der behördlichen Bestattungen, sondern auch die Erfahrungen der Telefonseelsorge für die Städte Duisburg, Mülheim und Oberhausen. Seit der Corona-Pandemie müssen die Telefonseelsorger bei einem Drittel der Anrufe Menschen trösten, weil sie einsam sind oder gar kein soziales Netz haben, das Leiden an Einsamkeit wird in einem Viertel der Gespräche ausdrücklich zur Sprache gebracht – das gleiche gilt für die Chat- und Mailseelsorge. Dabei stellen die Fachleute fest: Einsamkeit ist in allen Altersgruppen ein Problem. Der Langzeittrend ist eindeutig: Waren in früheren Jahren „schwierige Beziehungen“ das Hauptthema, so sind das jetzt „fehlende Beziehungen“.

Aber warum kümmert sich die Politik überhaupt um die Einsamen? Reicht es nicht, ihnen mal unverbindlich zuzurufen, beim Nachbarn zu schellen oder in einen Verein einzutreten?

Nein, die meisten Politiker im Rat waren sich einig, dass die Bekämpfung von Einsamkeit eine politische Frage ist – und nicht nur, weil Einsamkeit zu psychischen Erkrankungen führen kann, die die Gesellschaft viel Geld kosten, sondern weil die Lebensqualität in einer Stadt für alle sinkt, wenn viele Menschen einsam sind. Die Antworten der Stadtfachleute machen klar, dass Armut, Behinderung, Erkrankung, Arbeitslosigkeit oder die zunehmende „Singleisierung“ der Gesellschaft Einsamkeit begünstigt.

Grüne befürchten Sparpaket: „Aber wir benötigen mehr Jugendarbeit, nicht weniger“

Aber wie kann man das auffangen? Stehr formuliert es drastisch, die CDU wolle keine Spezial-Zwangsbetreuung: „Es geht nicht um ein Sonder-Einsatz-Kommando, das die Tür eintritt und sich mit Knabbereien und Gesellschaftsspielen an den Küchentisch setzt.“ Zwar leben beispielsweise in der Innenstadt, im Brücktorviertel, in Styrum, im Schladviertel, in Dümpten und im Marienviertel mehr als 30 Prozent in ihren Wohnungen alleine, doch nicht all diese Menschen sind automatisch einsam. „Insgesamt aber ist das Thema stärker geworden, viele Familienbündnisse zerbrechen“, beobachtet Sozialdezernent Frank Motschull. „Wir zählen in unseren Antworten nicht nur Daten und Fakten auf, sondern wollen auch handeln – und machen das auch.“

Die achtköpfige Grünen-Fraktion im Rat der Stadt Oberhausen, hier am Montag während der ersten Ratssitzung im frisch modernisierten Ratssaal. Rechts oben ist Grünen-Ratsfrau Louisa Baumann zu sehen.
Die achtköpfige Grünen-Fraktion im Rat der Stadt Oberhausen, hier am Montag während der ersten Ratssitzung im frisch modernisierten Ratssaal. Rechts oben ist Grünen-Ratsfrau Louisa Baumann zu sehen. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Doch wie? Grünen-Ratsfrau Louisa Baumann befürchtet in Zukunft schlimme Spareinschnitte. „Wir stehen vor dem haushaltspolitischen Exitus. Doch wir benötigen mehr Jugendarbeit statt weniger.“ Wie entscheidend eine günstige Mobilität für die Teilnahme am Alltagsleben einer Stadt ist, zeigen die Erfahrungen von Wohlfahrtsverbänden. „Als es das 9-Euro-Ticket gab, nutzten viele Menschen Angebote, die zuvor noch nie zu so einem Treff gekommen waren.“ Einsamkeit werde durch Armut begünstigt, man müsse deshalb Armut effektiv bekämpfen, meint Baumann.

SPD-Fraktionsvorsitzende Sonja Bongers ist davon überzeugt, dass „Smartphone und Computer den echten Kontakt mit Menschen niemals ersetzen können“. Gleichwohl will sie das Internet nutzen, um Bürger analog zusammenzubringen. „Die Stadt spielt eine zentrale Rolle, um Begegnungen zu schaffen. Sie könnte eine Online-Plattform aufbauen – für selbstorganisierte Treffen.“

SPD-Fraktionsvize Manuel Prohl und SPD-Fraktionsvorsitzende Sonja Bongers (SPD) während der Sitzung am Montagnachmittag (25. September 2023).
SPD-Fraktionsvize Manuel Prohl und SPD-Fraktionsvorsitzende Sonja Bongers (SPD) während der Sitzung am Montagnachmittag (25. September 2023). © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Linken-Ratsfrau Heike Jansen schlägt einen „runden Tisch für ältere Menschen vor – als einen ersten Schritt“. Man benötige gute, bezahlbare Nahverkehrsangebote, Jugendtreffs, niedrigpreisige Angebote der Kultur und der Vereine. Insgesamt also eine Stadtplanung mit Orten, an denen sich Bürger einfach und günstig treffen können.

AfD-Fraktionsvorsitzender Wolfgang Kempkes warnt davor, für jedes gesellschaftliche Problem automatisch mehr teure öffentliche Stellen zu fordern und mehr Geld für Soziales auszugeben. Er betrachtet das Problem der Einsamkeit grundsätzlicher: Familien seien heutzutage finanziell viel zu stark belastet; Eltern seien gezwungen, als Doppelverdiener zum Schaden der Kinder und Älteren zu arbeiten. „Die verfehlte Steuer- und Sozialabgabenpolitik reduziert die individuelle Freiheit der Bürger. Ein gerechter Sozialstaat sorgt für finanzielle Entlastungen der Familien.“