Oberhausen. So schlimm wie noch nie: Hunderte Arzneimittel fehlen aktuell in den Regalen. Was die Gründe sind und die Folgen für Patienten und Apotheken.
Der letzte Notdienst sei „der Horror“ gewesen, sagt Nina König, Inhaberin der St. Antonius-Apotheke in der Oberhausener Innenstadt. Dies habe nicht nur daran gelegen, dass inzwischen eine einzige Apotheke an einem Sonntag für die Versorgung der gesamten 209.000-Einwohner-Stadt zuständig ist, sondern an der langen Liste von Medikamenten, die zurzeit nicht lieferbar sind. Das sei zwar seit Beginn der Corona-Pandemie immer mal wieder vorgekommen, „aber noch nie so schlimm“.
Nicht nur die Filiale von Nina König kämpft mit den Lieferengpässen. Das Problem beschäftigt die Apotheken deutschlandweit. Vor allem der Mangel an Fiebersäften und -zäpfchen für Kinder beunruhigt derzeit die Eltern. Ein schnelles Ende der Lieferschwierigkeiten ist nicht in Sicht.
Im Schaufenster an der Goebenstraße hängt unübersehbar ein großes Schild: „Nicht lieferbar: Ibuprofen-Saft, Paracetamol-Saft, Paracetamol-Zäpfchen, Amocicillin-Saft uvm… Wir bitten um Verständnis und beraten Sie gerne!!!“ Seit Sonntag ist dies in der St. Antonius-Apotheke zu lesen, seit dem „Horror“-Notdienst mit 300 Notfällen, unzähligen Telefonanrufen und der immergleichen Frage: „Haben Sie wirklich gar nichts mehr da?“ Sogar Autos aus Duisburg, Mülheim und Essen seien vorgefahren, weil es in anderen Städte nicht anders aussieht.
Irgendwann hat Apothekerin Nina König die Notbremse gezogen und den diensthabenden Kinder-Notarzt angerufen. Krisensitzung. „Ich habe ihm dann gesagt, kommen Sie bloß nicht auf die Idee, heute noch irgendjemandem Schmerzsaft zu verschreiben.“
Es fehlen 277 Medikamente – mindestens
„Das ist schrecklich“, sagt Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein zur Lage in Oberhausen, die sich derzeit deutschlandweit wiederholt. „Aber es ist die Wahrheit.“ Nicht nur die fiebersenkenden Säfte seien betroffen, sondern mehrere hundert Produkte, die zurzeit nicht lieferbar sind. Auf der Internetseite des Bundesinstituts für Arzneimittel sind sie fein säuberlich aufgelistet, in der „Lieferengpass-Datenbank“. Aktuell sind es 277 Medikamente. „Das ist nur ein Teil der Wirklichkeit“, sagt Thomas Preis. „Nicht verschreibungspflichtige Medikamente sind da gar nicht mit drin.“
Immer mal wieder komme etwas nach, sagt Verbands-Vorsitzender Preis, der selbst auch eine Apotheke in Köln betreibt. Doch nie sei es ausreichend, um alle flächendeckend zu versorgen. Was steckt hinter dem Problem, das in diesem Jahr bereits im Sommer aufgeflammt ist und seitdem offenbar nicht behoben werden konnte? Beim Paracetamol-Saft, erklärt Thomas Preis, liege es ganz konkret daran, dass es inzwischen nur noch zwei Hersteller in Deutschland gebe. „Die anderen haben sich aus wirtschaftlichen Gründen zurückgezogen.“ Und da es in den warmen Monaten eine ungewöhnlich hohe Welle an Erkältungskrankheiten gab, sei die Knappheit immer noch nicht aufgeholt worden.
Pappe, Papier, Flaschen: Engpässe überall
Über die genauen Gründe zu einzelnen Lieferproblemen erhalten auch die Apotheker keine detaillierten Auskünfte. Thomas Preis weiß jedoch aus Erfahrung, dass es ein Zusammenspiel von vielen Faktoren ist: Nicht nur die Produktion an sich verzögere sich, weil es beispielsweise hohe Krankenstände bei den Herstellern gibt. Manchmal fehle es auch einfach an Kartonagen für die Verpackungen, an Papier für die Beipackzettel oder an Glasflaschen. „Wir erhalten jeden Tag eine Hiobsbotschaft.“
Dennoch wollen die Apotheker keine Angst verbreiten. „Es gelingt immer in jedem Fall, die Patienten zu versorgen“, sagt Thomas Preis. Für Kinder könne der Arzt zum Beispiel Tropfen statt Saft verschreiben, erklärt Nina König. „Die sind dann aber verschreibungspflichtig, die Eltern müssen also erst zum Arzt und dann zu uns. Das sind zwei Wege.“ Enorm gestiegen sei der Arbeitsaufwand wegen der Lieferengpässe in allen Apotheken. „Wir müssen die Patienten viel ausführlicher beraten und auch oft mit Ärzten telefonieren“, sagt Thomas Preis. „Das kostet eine Apotheke im Durchschnitt Arbeitszeit im Wert von 30.000 Euro.“ Seinen Kunden rate er, die eigenen Medikamente im Blick zu behalten und rechtzeitig, am besten 14 Tage vor der letzten Tablette, zum Arzt zu gehen.
Ansonsten könne sich an der Situation nur etwas ändern, wenn man an den Ursachen etwas ändere, sagt Thomas Preis und führt die Forderungen seines Verbandes an die Politik auf: „Die Produktion muss wieder zurückgeholt werden. Früher war Deutschland die Apotheke der Welt, heute sind es Indien und China.“ Um höhere Produktionskosten aufzufangen, müsse ermöglicht werden, dass Medikamente teurer werden. Auch die Bezahlung der Apotheker hinke hinterher – „bei dem Aufwand, der inzwischen geleistet wird“.
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