Oberhausen. Ex-Ministerin Bärbel Höhn (Grüne) erteilt dem Ausstieg aus dem Atomausstieg eine klare Absage und lobt den Politikstil von Baerbock und Habeck.

Bärbel Höhn zählt zu den bekanntesten politischen Persönlichkeiten der Grünen in Stadt und Land. Die Oberhausenerin ist seit 1985 Mitglied der Grünen, war NRW-Umweltministerin, Landtags- und Bundestagsabgeordnete. Sie hat mehrere Jahrzehnte grüner Politik auf Stadt-, Landes- und Bundesebene prägend mitgestaltet und begleitet. Im Interview blickt die 70-Jährige auf die aktuelle Debatte um einen Ausstieg aus dem Atomausstieg.

Frau Höhn, die Politik streitet um eine mögliche Laufzeitverlängerung für die letzten drei deutschen Atomkraftwerke. Verfolgen Sie das Thema in Ihrem politischen Ruhestand?

Bärbel Höhn: Natürlich, Klima- und Energiepolitik waren und sind seit 30 Jahren meine politischen Schwerpunkte.

Politische Beobachter kommentieren, dass der Atomausstieg identitätsstiftend für die Grünen sei und dass die aktuelle AKW-Laufzeitdebatte das Zeug habe, die Partei tief zu spalten. Sehen Sie ebenfalls diese Gefahr?

Wir Grüne haben mit unserer Forderung nach einem Atomausstieg gewonnen. Die letzten AKWs sollen Ende des Jahres vom Netz. Die Forderung nach einer langfristigen Atomrenaissance in Deutschland gibt es aus ideologischen Gründen bei CDU/CSU und FDP. Aber diejenigen, die etwas von der Sache verstehen, wollen sie nicht, weil Atomkraft weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll ist. . .

. . .wobei die Jahre 1986 und 2010 entscheidende Wegmarken waren.

Die Atomkatastrophen in Tschernobyl 1986 und Fukushima 2010 zeigen die furchtbare Bedrohung der Atomtechnologie. Wer hätte Anfang des Jahres die aktuelle Gefahr durch das AKW Saporishja in der Nähe unserer Partnerstadt im Ukrainekrieg für möglich gehalten? Gegen allen Widerstand haben wir mit den Erneuerbaren Energien, die im ersten Halbjahr 2022 circa 50 Prozent unseres Stroms geliefert haben, eine kostengünstige, ungefährliche, klimafreundliche Alternative geschaffen. Die FDP und die CDU/CSU setzen auf die Atomkraft, weil sie ablenken wollen von ihrer schlechten Politik. Über deren Energie- und Wirtschaftspolitik kann ich nur den Kopf schütteln.

Das AKW Isar 2 zählt – neben Emsland und Neckarwestheim 2 – zu den letzten drei noch in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerken.
Das AKW Isar 2 zählt – neben Emsland und Neckarwestheim 2 – zu den letzten drei noch in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerken. © dpa | Armin Weigel

Halten Sie einen Streckbetrieb der drei letzten deutschen Atomkraftwerke, bei dem die vorhandenen Brennstäbe mehr und länger als vorgesehen Strom produzieren, für akzeptabel?

Momentan wird geprüft, ob die drei noch am Netz befindlichen Atomanlagen im kommenden Winter eine Hilfe bei dem zu erwartenden Gasmangel sein könnten. Dabei wird auch der Streckbetrieb in Erwägung gezogen, der allerdings auch ernsthafte Probleme aufwirft. Die Betreiber haben alles auf eine Abschaltung der AKWs Ende 2022 ausgerichtet: Wartung, Brennelemente, Arbeitsverträge, Betriebserlaubnis, aber auch die alle zehn Jahre zwingend stattfindende Sicherheitsüberprüfung ist seit drei Jahren überfällig, weil die Abschaltung bevorsteht.

Gibt es überhaupt noch die realistische Perspektive eines Weiterbetriebs?

Der EnBW-Chef des AKW Neckarwestheim hat mit Blick auf die gerade beschriebene Situation von einem Weiterbetrieb abgeraten. Auch in Niedersachsen gibt es genug Windkraft, so dass der Strom aus dem AKW gar nicht benötigt wird. Einzig Bayern hat ein massives, selbst verursachtes Problem, weil sie auf der einen Seite eine große Gasabhängigkeit haben, auf der anderen Seite den Ausbau der Windkraft und den Netzausbau für Windstrom aus dem Norden, der besonders viel Strom im Winter liefert, aber massiv verhindert haben. Ministerpräsident Söder hat 2011 mit Rücktritt gedroht, wenn der Atomausstieg 2022 nicht kommt, jetzt ist er der größte Antreiber für eine Verlängerung. Ob wegen Bayern mal wieder eine Extrawurst gebraten werden muss, wird gerade in der Bundesregierung geprüft.

Vor allem aus der FDP kommt die Forderung nach dem Neueinkauf von Brennstäben und einer Laufzeitverlängerung für die Atomenergie bis 2024 – was sagen Sie dazu?

Atomkraftwerke müssen dauerhaft Strom liefern, weil sie anders als Gaskraftwerke nicht schnell hoch- oder runter gefahren werden können. Je mehr Erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, desto häufiger haben wir aber die Situation, dass die gesamte benötigte Strommenge von Erneuerbaren Energien geliefert wird, damit blockiert der Atomstrom im Netz die Erneuerbaren Energien. Die beiden passen nicht zusammen.

Was ist die Alternative?

Anstatt über Laufzeitverlängerungen zu diskutieren, sollten wir über den schnelleren Ausbau der Erneuerbaren Energien, einschließlich von Biogas reden, das viel besser das Erdgas ersetzen kann. Der dauerhafte Weiterbetrieb von AKWs ist also nicht nur gefährlich, sehr teuer und ohne Lösung für den Atommüll, sondern auch ein Bremsklotz für die Erneuerbaren Energien. Im übrigen sehen wir am Stromimportland Frankreich, wo die Hälfte der Atomkraftwerke seit Wochen nicht am Netz ist wegen der Hitze, Wartung oder Reparatur, wie teuer und ineffizient deren Energiekonzept ist.

Sie sind seit 1985 Mitglied der Grünen. Wird die Parteibasis das von vielen Mitgliedern als Zumutung wahrgenommene Mitregieren in der Berliner Ampelkoalition - Waffenlieferungen an die Ukraine, Sondervermögen für die Bundeswehr - weiterhin akzeptieren, wenn jetzt auch noch der Atomausstieg auf dem Spiel steht?

In der Regierung haben gerade wir Grüne immer wieder gezeigt, dass wir gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und auch bei geänderten Rahmenbedingungen für uns politisch unangenehme Entscheidungen treffen, wenn sie notwendig sind. Entscheidend ist dabei die Kommunikation und die langfristig politisch richtige Ausrichtung. Wir dürfen unsere Ziele nicht aus den Augen verlieren. Weil ganz viele Grüne ein solches Politikverständnis auch in der Kommunalpolitik anwenden müssen, sind wir und unsere Wählerinnen und Wähler eher bereit, auch schwierige Entscheidungen mit zu tragen.

Droht den Grünen ein ähnliches Schicksal wie der SPD, die Anfang des Jahrtausends mit der Agenda 2010 ihren sozialen Markenkern aus der Sicht vieler Bürgerinnen und Bürger zerstört hat?

Das sehe ich überhaupt nicht. Gerade das grüne Thema Klimaschutz und Energiewende, für das wir jahrzehntelang verlacht worden sind, wird jetzt immer wichtiger. Es wird uns in den nächsten 25 Jahren mit der Transformation unserer gesamten Wirtschaft massiv beschäftigen. Das ist eine Aufgabe, für die wir Grüne die höchste Kompetenz haben.

Was raten Sie ganz persönlich Ihren in politischer Spitzenverantwortung stehenden Parteifreunden Robert Habeck und Annalena Baerbock?

Ich kenne beide recht gut und habe sie auch schon bei ihrer Kandidatur für den Parteivorsitz unterstützt. Sie haben mit ihrem neuen Politikstil und vor allen Dingen neuer Kommunikation überzeugt. Jetzt heißt es, diesen Stil beizubehalten, nicht abzuheben und die eigene Arbeit immer wieder mit den Menschen und der Parteibasis zurück zu koppeln.